Sowjetische Antike

■ Juri Ljubimows Moskauer Taganka-Theater bei den Festwochen

Das Moskauer »Theater auf der Taganka« ist ein Kind der sechziger Jahre, der ersten längeren Periode kulturpolitischer Liberalisierung nach Stalins Tod. Es entstand 1964, im letzten Amtsjahr Chruschtschows, aus der Vereinigung einer Gruppe von Absolventen der Wachtangow-Schauspielschule mit dem Kollektiv des »Theaters des Dramas und der Komödie« im alten Moskauer Taganka-Viertel. Zwanzig dumpfe Jahre lang, von Breschnew bis Tschernenko, blieb es sich selbst und dem Geist des Aufbruchs der sechziger Jahre treu und wurde so schnell zur Legende. Es war ein Silberstreif am Horizont, ein bescheidenes, aber sichtbares Zeichen dafür, daß mehr möglich sein könnte, als bloß seine Existenz zu fristen. Für das Taganka-Theater standen vor allem zwei Namen: der seines Gründers und Leiters Juri Ljubimow und der seines »Stars« Wladimir Wyssotski.

Ljubimow, zwei Monate älter als die Oktoberrevolution, steht als Regisseur in der Tradition Wachtangows, Mejerholds, Brechts und ist selbst zum Lehrer einer ganzen Generation von Regisseuren geworden. In einer Zeit, in der nichts leichter war, als ein Sakrileg zu begehen, versuchte er im Gegensatz zu fast allen anderen nicht, dies eigens zu vermeiden, und kämpfte verbissen darum, seine Inszenierungen auf die Bühne bringen zu dürfen. Was hierzulande einen Provinztheaterskandal provoziert hätte, nämlich Hamlet in Jeans und den dänischen Hofstaat in Rollkragenpullover zu stecken, wurde um 1970 ebenso als offene Kampfansage an das System begriffen wie gut zehn Jahre später die bloße Tatsache, daß dieser Regisseur an diesem Theater Puschkins klassisches Drama über den Usurpator Boris Godunow inszenierte.

1984 wurde Ljubimow ausgebürgert, nachdem er sich während eines Auslandsaufenthaltes in einem Interview offen über das Koma geäußert hatte, in dem die sowjetische Kulturpolitik lag. 1989 erhielt er die sowjetische Staatsbürgerschaft zurück; einige Monate später wurde er auch als Leiter des Taganka-Theaters wieder eingesetzt. Er fand das Land, das ihn hinausgeworfen hatte, völlig verändert vor. Sein zwischenzeitlicher Statthalter, Nikolai Gubenko, war 1989 zum Kulturminister der UdSSR gewählt worden — was ihn nicht daran hindert, aktives Ensemblemitglied des Taganka-Theaters zu bleiben und in dieser Eigenschaft derzeit auch auf den Berliner Festwochen zu gastieren. In Moskau und Leningrad schießen Hunderte von Studiotheatern und freien Gruppen aus dem Boden, obwohl wer ein Tabu brechen will gründlich suchen muß, bevor er eins findet; und ins Theater gehen wollen auch immer weniger — die Wirklichkeit ist entnervend genug.

Mit der gleichen Sturheit und Dickköpfigkeit, mit der er das Theater zwanzig Jahre lang am Leben erhalten hatte, machte sich Ljubimow nun daran, es in ein Museum zu verwandeln: Er begann die Inszenierungen zu rekonstruieren, die ihm vor zehn oder zwanzig Jahren verboten worden waren. Jetzt, wo sie gezeigt werden dürfen, will er sich nicht auch noch mit dem Argument daran hindern lassen, sie seien inzwischen veraltet. Und er weiß durchaus, was er tut: Seine Zeit, die Breschnew- Ära, hat ihn wie unzählige andere um Arbeit und Leben betrogen, und er möchte darüber nicht stillschweigend zur Tagesordnung übergehen, sondern den Betrug dokumentieren. Die Moskauer über dreißig können jetzt ins Taganka-Theater gehen und sich angucken, was sie in den siebziger und frühen achtziger Jahren nicht zu sehen kriegen sollten. Und sie sind ihm dankbar dafür.

Drei dieser rekonstruierten Inszenierungen hat Ljubimow jetzt für die Berliner Festwochen ausgewählt, auf denen seine Arbeit zur Zeit im Rahmen eines Porträts vorgestellt wird. Wer sie sich ansieht, sollte sich darüber im klaren sein, daß es sich nicht um die neuesten Produktionen aus der avancierten Moskauer Theaterlandschaft handelt. In jede Inszenierung ist ihre eigene jahrelange Geschichte eingearbeit, und aus diesen Geschichten heraus — die im Begleitheft der Festwochen ausführlich dokumentiert sind — wird vieles aufschlußreich, was ohne sie nichtssagend bliebe.

Auf das Stück Wladimir Wyssotski, das am Wochenende im Hebbel-Theater zu besehen war, wirkt sich die historische Distanz vielleicht am schwerwiegendsten aus. Wyssotski, Ljubimows »Hamlet in Jeans« und beliebter Kinoheld, hatte in Hunderten von Liedern, die er zur Gitarre sang und die durch zahllose Tonbandkopien in der gesamten Sowjetunion populär geworden waren, die Wut und Hilflosigkeit der gesamten Sowjetunion herausgeschrien. Nachdem er sich 1980 zu Tode getrunken hatte, wollte das Taganka- Ensemble seinem berühmtesten Mitglied mit einer Gedächtnisaufführung, einer Montage aus seinen Liedern und berühmten Theaterszenen, die Anerkennung zuteil werden lassen, die ihm von offizieller Seite verweigert worden war. Die Aufführung war 1981 für ein Publikum gedacht, das Wyssotski noch frisch im Gedächtnis hatte, das ihn selbst ebensogut kannte wie jedes Wort seiner Lieder, jede noch so versteckte Anspielung darin, ein Publikum, das keine Möglichkeit hatte, sich selbst zu äußern. Sie wurde damals richtig verstanden und auf der Stelle verboten. Zehn Jahre später, an einem ganz anderen Ort, hat sie fast alles verloren, was ihre Sprengkraft ausmachte. Wyssotski, längst schon als Klassiker in den sowjetischen Olymp aufgenommen, wird in ihr fast zum Gott verklärt; und indem um die Lücke herumgespielt wird, die er hinterlassen hat, gerät sie zugleich zu einem melancholischen Abgesang auf die Zeit des Taganka-Theaters. Ein jüngerer sowjetischer Kritiker hat über es gesagt, es repräsentiere inzwischen die »sowjetische Antike«; respektloser und ehrfürchtiger läßt es sich kaum noch ausdrücken. Anselm Bühling.

Heute und morgen spielt das Moskauer Taganka-Theater in Theater der Freien Volksbühne Ljubimows Boris Godunow von 1983 nach Alexander Puschkin, am Freitag und Samstag wird im Hebbel-Theater Der Lebendige nach Boris Mozajew gezeigt.