Rosarote Springmaus mit Biß

Das DDR-Jugendmagazin „Elf 99“ feiert sein einjähriges Jubiläum/ Vom protegierten Honnecker- Zögling zum aufmüpfigen TV-Programm/ Anerkennung und Neid unter DFF-Mitarbeitern  ■ Aus Berlin Ute Thon

Im Studio D des Deutschen Fernsehfunks (DFF) knallen die Sektkorken. Auf den Fernsehmonitoren Videoclips, aus den Lautsprechern dröhnt Disco-Sound. Im pink-bleu-gelben Studioambiente, zwischen Ikea- Stühlen, Memphis-Design und rosa Bonbonnière-Charme, prosten sich junge Leute zu. Später wird sogar getanzt. Ein japanisches Kamera-Team ist damit beschäftigt, die ausgelassenen Fernsehleute zu filmen. Motto der Party: Ein Jahr „Elf 99“.

Das einjährige Bestehen einer Jugendsendung wäre an sich wohl noch kein Anlaß für großen Presserummel, doch das Elf-99-Team hat in dieser Zeit erstaunliches vollbracht. Honneckers Faible für die Jugend und Schalck-Golodkowskis Divisenschiebereien bescherten dem DDR- Fernsehen noch rechtzeitig vor der „Wende“ ein hochmodernes TV- Studio, das nicht nur in der DDR seinesgleichen sucht: Modernste Betacam-Aufnahme- und Schnittechnik inclusive Paintbox, dazu ein aufwendig gestyltes Live-Studio, wurde im Frühjahr 1989 hinter den baufälligen Fassaden des DFF installiert. Denn, so hatte man dem SED-Chef ins Ohr geflüstert, die Jugend ist mit dem Sandmann, nüchternen Berichten von Planerfüllung oder Parteitagslobeshymnen nicht mehr zu fesseln, sondern die sozialistische Message muß in zeitgemäße Formen verpackt werden. Darum wurde ein junges Redaktionsteam angeheuert — Durschnittsalter 28 Jahre —, das die DDR-Kids mit einem westlich gestylten Jugendmagazin endlich von den verderbten Kapitalisten-Kanälen zurück ins heimische DDR-Programm holen sollte. Doch das verhätschelte Honnecker-Kind gebährdete sich von Anfang an aufmüpfig. Im Elf-99-Jugend-Programm, das im September 1989 startete, wurde das Problem der Botschaftsflüchtlinge erwähnt, zu einer Zeit, als alle DDR- Medien noch versuchten, das Thema totzuschweigen.

Mit der November-„Revolution“ schlug für die Elf-99-Crew die große Stunde. Während die AK-Kollegen noch Schwierigkeiten hatten, vom SED-gelenkten Verlautbarungsstil auf engagierten Enthüllungsjournalismus umzuschalten, machten sich die jugendlichen Reporter blitzschnell auf nach Wandlitz. Respektlose Fragen an den neuen Parteiführer Egon Krenz, Interviews mit Mitgliedern der Oppositionsbewegung, Enthüllungen über Partei- Bonzen, Berichte über Neonazies und Knackies in der DDR — mit ihren kritischen Reportagen mauserte sich die „rosarote Springmaus“ (Langerbeck) schnell zum bissigen Mediendrachen. Die Wandlitz-Reportage war eine internationale Sensation.

Die Jugendnachmittage, zweimal pro Woche dienstags und freitags eine zweistündige Live-Sendung mit Nachrichten, Musikvideos, Quizeinlagen, Studiogästen, Tanzkursen, Porträts und Veranstaltungstips, dazu Samstags Countdown, die durchmoderierte Musikvideo-Hitparade, und zusätzlich noch jede Menge Elf-99-Special-Reportagen (allein im letzten Jahr nahezu 30 Beiträge) bringen zwischen drei und vier Prozent Sehbeteiligung, d.h. etwa eine halbe Million ZuschauerInnen sind bei Elf 99 jedesmal dabei. Darum fühlt sich das Elf-99-Team beim einjährigen Jubiläum kaum unter Legitimationsdruck. Man wolle auch im zweiten Jahr „frech und schräg, locker und schnell“ bleiben, „aber nicht oberflächlich“, verspricht Chefredakteur Georg Langerbeck. Trotzdem blickt man nicht gänzlich unbeschwert in die Zukunft. Das Problem liegt im System.

Die Zauberformeln heißen „Föderalismus“ und „Integration“. Der zentralistische DFF soll zugunsten staatsferner Landessender aufgelöst werden. Der jüngste Vorschlag der ARD-Anstalten, der von der DFF- Intendanz grundsätzlich begrüßt wird, sieht vor, daß schon ab dem 3. Oktober das bundesdeutsche erste Programm auf dem ersten DDR-Kanal ausgestrahlt werden soll. Das ZDF soll möglichst bald auf der dritten, noch freien Welle senden. Auf der verbleibenden zweiten DDR-TV- Frequenz sollen nach den Wünschen von DFF-Intendanten Albrecht alle „guten“ Programmteile des DDR- Fernsehens gebündelt werden, um daraus für die Zukunft ein drittes ostdeutsches Programm („O3“) zu entwickeln, quasi als Gemeinschaftsprodukt der Landessender. Konkret heißt das für Adlershof: Abspecken, sowohl personell als auch programmlich. Denn die zu erwartenden Gebühreneinnahmen reichen längst nicht, um 12.000 Lohntüten zu füllen. Außerdem werden die medienpolitisch Verantwortlichen auf längere Sicht kein ostdeutsches Programm mehr dulden, das hauptsächlich von der alten Berliner TV- Zentrale aus gestaltet würde. Darum unterstützt der DFF schon jetzt den Aufbau von Landesstudios, es gibt schon Länderfenster im Programm. Auch bei Elf 99 sehen die Kids immer häufiger Bilder aus der Provinz.

Trotzdem ist die Angst vor Entlassungen im Elf-99-Team, verglichen mit anderen DFF-Redaktionen, relativ gering. Die 120 Männer und Frauen, vom Techniker, über Sprecher bis zum Nachrichtenredakteur produzieren gemeinsam jede Woche 800 Sendeminuten und liegen damit innerhalb des trägen Medienkolosses weit über der durchschnittlichen Arbeitsproduktivität. Und mit westlichen Standards können sie sich ohne weiteres messen. Alle großen Sendeanstalten, auch die Privaten, hätten schon Interesse an einer Zusammenarbeit bekundet, verrät Chefredakteur Langerbeck nicht ohne Stolz. Doch wer Erfolg hat, hat auch Neider. Gerade innerhalb der DFF-Belegsschaft regt sich zuweilen Mißmut. Von Anfang an neideten einige der Elf-99-Crew ihre Vorteile, die üppige technische Ausstattung, die größeren redaktionellen Freiheiten, in Zeiten zunehmender Depression wohl auch das freche Selbstbewußtsein, mit dem sie sich als TV-Revolutionäre feiern. Kein Wunder also, daß auf der Betriebsvollversammlung die Jubiläumsparty kritisiert wird. 7.600 Mark einfach versaufen, wo überall im Hause doch gespart werden müsse, das ginge nicht. Außerdem hätte Elf 99 als ehemaliges Vorzeigekind Honneckers sowieso keinen Grund, zu feiern, mokierte sich ein Dramaturg. Die Elf-99-Crew nimmt's gelassen.

Der hektische Alltag läßt wenig Zeit zum Nachdenken. Freitag ist Jugendnachmittag. Das Studio ausgefegt, die Tische wieder zurechtgerückt, letzte Partyreste sind längst beseitigt. Während in der Nachrichtenredaktion Tickermeldungen sortiert, Bildmaterial gesichtet und Nachrichten geschrieben werden — immer noch per Hand, denn ein modernes Textverarbeitungssystem gibt es hier ebensowenig wie bei den Kollegen von der AK —, probt das Moderatoren-Duo Vicki (Herrmann) und Stefan (Twadowski) seinen Auftritt. Heute steht das Thema „Schule“ auf dem Programm. Die DDR-Kids sollen über das bundesdeutsche Schulsystem informiert werden. Zudem hat man Innenminister Diestel als Studiogast gewonnen, just einen Tag nach dem Volkskammer-Debakel um seine Abwahl.

Im durchmoderierten Magazinteil sind zwei Nachrichtenblöcke vorgesehen, einmal als kurze Schlagzeilen und einmal fünf oder sechs knappe Bildbeiträge. Zudem gestaltet die Nachrichtenredaktion noch drei eigene Nachrichtensendungen im zweiten Programm: 5 vor 5, 7 vor 7 und 8 vor 8. Sprachlich und inhaltlich wollen sich die Macher bewußt absetzen vom herkömmlichen, steifen Nachrichtenstil angelsächsischer Prägung. Man will lockerer rangehen, „anders als die anderen“, erklärt CVD Harry Koch, der selbst beim Hörfunk war, bevor er zu Elf 99 kam. Die Nachrichtenlage ist so aufregend heute nicht. Die Krise am Golf (natürlich), Naturparks in der DDR, denn „wir sind doch für Umweltschutz“, Geburt eines Panda- Bären im Zoo, Wörner im Nato- Hauptquartier, Atomunfall in Kasachstan („Leider keine Bilder“) und („haben wir nicht noch was lustiges?“) die Kuh, die illegal über die Grenze gelaufen ist.

Der ganze Stolz der Redaktion gilt diesmal einem Interview-Fetzen mit Ex-Präsident Ronald Reagan. Die 21jährige Reporterin Michaela Papke heftete sich mit der einzigen Bereitschaftskamera der Redaktion hartnäckig und mit einer gehörigen Portion Naivität so lange an die Fersen des prominenten Berlinbesuchers, bis der medienbewußte Kalte Krieger endlich ein paar belanglose Sätze über „peace“ und „freedom“ ins Elf-99-Mikrophon sagte. Immerhin war Elf 99 damit das einzige Team, dem solche Aufmerksamkeit zuteil wurde. Die magere Interview- Ausbeute wird mit den üblichen Besuchsbildern gestreckt und mit Marlene Dietrichs rauchiger Stimme unterlegt: „Ich hab'noch einen Koffer in Berlin...“. Dazu ein leicht despektierlicher Kommentar.

„Die Störung hat System“ heißt der neue Slogan der Elf-99-Crew. „System“ vielleicht, aber keinesfalls eine eindeutige politische Richtung. Allenfalls vermitteln die kurzen, auf den vermeintlichen Jugendgeschmack abgestimmten Nachrichtenhäppchen den Eindruck, daß man die hohe Politik nicht allzu Ernst nehmen sollte. Das Peinliche Abstimmungsverfahren in der Volkskammer erwähnt Elf 99 unter dem Stichwort „Politkrimi“. Titel: „Wie wähle ich einen Minister ab. Auf der Anklagebank Peter Michael Diestel...“, liest Stefan als Schlagzeile. Keine Stunde später sitzt er dem selbstgefälligen Minister gegenüber, ist höflich und kein einziges Mal wirklich frech oder vorlaut. Noch einmal darf Diestel vor laufender Kamera wiederholen, was er von der Besetzung der Normannenstraße hält: „Eindeutig Rechtsbruch.“ Nach der Sendung ist Stefan nicht richtig zufrieden, lange Diskussionen, Sendekritik oder ähnliches gibt es nicht. Am Abend ruft der NDR an, möchte das Interview überspielt haben. Also war das Studiogespräch doch ein Erfolg.

Die Redaktionsmannschaft bildet sich einiges ein auf ihren unkonventionellen Stil. Die Redakteure sind allsamt Allround-Arbeiter. Sie gehen als Reporter mit dem EB-Team raus, sie texten Nachrichten, schneiden Nachrichtenfilme und sprechen ihre Texte selbst — oft sogar alles auf einmal am gleichen Tag. Wenn die von ARD- und DFF-Intendanz anvisierte Umstrukturierung funktioniert, hoffen die Elf-99-Leute nicht nur auf dem Erhalt ihrer Jugend-Sendeplätze auf dem zweiten Kanal, sondern sie träumen von einem gemeinsam mit der AK bestrittenen zweistündigen Abendjournal mit gemeinsamer Sendeleitung und Reporterpool. Für Elf 99 brächte das den Vorteil zusätzlicher mobiler Kamerateams, während die AK so endlich in den Genuß der begehrten Schnittechnik und der Paintbox käme. Zusammen mit einer flotteren Bildgestaltung möchte man der betulich steifen AK-Stimmung gern ein bißchen vom jugendlichen Esprit der Elf-99-News abgeben. Doch davon hält Alfred Roesler-Kleint, derzeit DFF-Chefredakteur für Politik und Zeitgeschehen, nichts. Die AK-Abendnachrichten sollen im wesentlichen bleiben, wie sie sind. Eventuell könne der eine oder andere Elf-99-Sprecher oder -Reporter hinüberwechseln. Die flapsig-bunten Nachrichten seien im Jugendprogramm genau richtig aufgehoben.

Bei der AK wiederum fürchten gerade die älteren Jahrgänge, das sie von den dynamischen Jungjournalisten kalt aus dem Feld gedrängt werden. Ob jedoch eine dritte seriös- nüchterne Nachrichtensendung im einig-deutschen Fernsehabend überhaupt Bestand haben wird, muß sich erst zeigen. Der werbetreibenden Wirtschaft jedenfalls, und auf die ist das „arme“ DDR-Fernsehen ja angewiesen, sind vom Elf-99-Stil ganz angetan. Die 7vor7-Nachrichten müssen immer mal wieder ein-zwei Sendeminuten abgeben für den gut belegten Werbeblock, der im Anschluß folgt. Kaum ist die letzte Meldung vom Golfkonflikt verlesen, fährt Barbie mit ihrem Barbie-Mobil durchs Barbie-Puppen-Land in pink, bleu und gelb. Irgendwoher kennen wir doch diese Farben.