Postsymbolische Kommunikation
Digitale Träume, virtuelle Welten, Cyberspace — auf dem Symposion der „ars electronica“ in Linz wurde das Medium des 21. Jahrhunderts vorgestellt ■ Von Mathias Bröckers
Treppenwitze sind zwar nicht die einzigen, aber immer noch die besten Erklärungen der Weltgeschichte, deshalb zuerst ein kleiner Treppenwitz der Künstliche- Intelligenz (KI)-Forschung: Am zweiten Konferenzabend im Brucknerhaus sitzen wir mit Timothy Leary im angeschlossenen Hotel-Restaurant. Er ist gerade aus Los Angeles angekommen, trotz 15 Stunden Flug (und siebzig Lebensjahren) topfit, aber ziemlich ausgehungert — doch es gibt nach 23 Uhr nichts mehr zu essen, nicht einmal (und das in Linz!) ein Stück Torte. Ob man telefonisch eine Pizza kommen lassen kann? — Nein. „Österreich scheint ein Dritte-Welt-Land zu sein“, meint Dr. Leary.
Wir bestellen Getränke und wollen danach in eine der zwei Pizzerien, die bis ein Uhr geöffnet haben sollen. Aber da kommt ein weiterer Trupp Konferenzteilnehmer, unter ihnen Marvin Minsky vom Massachusetts Institute of Technology (MIT), einer der einflußreichsten Computerforscher der letzten Jahrzehnte. Am Vortag hatte er in seinem Referat die Prognose abgegeben, daß es spätestens in dreißig Jahren ein implantierbares Interface zur Verbindung von Gehirn und Computer geben wird. Jetzt muß ich meinen Platz für ihn räumen — denn natürlich kennen sie sich, der Ex-Harvard-Psychologe, Psychedelik-Promoter und „Hippie-Papst“ Leary und der aktuelle MIT-Papst der KI- Forschung Minsky. Tische werden zusammengerückt, neue Getränke werden bestellt, ich komme neben Warren Robinett zu sitzen, der an der Universität von North Carolina an einer Daten-Brille arbeitet, die zum Beispiel Ärzten unsichtbare Körperteile bis hin zu winzigen Molekülen sichtbar macht: über einen Röntgen- Scanner wird in Echtzeit eine dreidimensionale Simulation übertragen.
Minsky und Leary plaudern schräg gegenüber mittlerweile über alte Filme. „Hast du damals diesen Film über den Präsidenten gesehen, der ein elektronisches Chip im Hirn hatte?“ fragt Leary. „Natürlich“, antwortet Minsky, „da habe ich doch meine ganzen Ideen her.“
Bio-Chips und Mind-Hacker
Auf der Pressekonferenz mit Marvin Minsky wird deutlich, daß er auch noch andere Hollywood-Schinken gesehen haben muß, vor allem solche, in denen ein „mad scientist“ mitspielt. Auf die Frage, ob ihm bei der Verbindung von Cortex und Computer keine ethischen Bedenken kommen, meint er grinsend, diese Frage könne man getrost den Politikern und Moralexperten überlassen. „Ethik ist ein Begriff für Ethik-Diskussionen, sie fragen ja auch nicht, ob Zahnfüllungen ethisch sind. Ich bin ein böser Wissenschaftler, der seinen Job gut machen will.“ Seinen Job sieht Minsky darin, die Lerngeschwindigkeit des Menschen zu verbessern, unsere derzeitige Kapazität von einem Bit pro Sekunde hält er für zu langsam. Das Gehirn ist nach seiner Vorstellung eine Recheneinheit von etwa 400 Computern, die mit reichlich Drähten („hundreds and hundreds of wires“) verbunden sind. Noch wissen wir über die Verkabelung nichts Genaues, aber „spätestens im Jahr 2050“ werden wir laut Minsky den Schaltplan herausgekriegt haben und wissen, wie das Gedächtnis im Detail funktioniert.
Dann wird der Silicon-Chip schon längst ins Museum gewandert sein, weil die Nano-Technologie — die Herstellung mikroskopisch kleiner Werkzeuge durch Zusammensetzung einzelner Atome — innerhalb der nächsten dreißig Jahre Schaltkreis-Winzlinge produzieren wird, die sich problemlos in die menschliche Hirn-Hardware integrieren lassen und, so Minsky, „die Struktur des Gehirns verbessern können“. Wie das? Man könnte zum Beispiel, schlägt er vor, sein ganz normales Leben über ein Interface ein Jahr lang aufzeichnen und sich dann eine Kopie sämtlicher Daten implantieren. Ist angesichts der Ergebnisse von Quantentheorie und Chaosforschung eine derart mechanisch-deterministische Betrachtung des Hirnkastls nicht völlig obsolet? Hier wird der lockere MIT-Mann apodiktisch und stur: „Die Chaostheorie ist ein Modetick mathematischer Babys.“ Und auch die Quantentheorie, verkündet er, könne bei neurophysiologischen Prozessen überhaupt nichts ausrichten: „Es handelt sich nicht um mikrokosmische Vorgänge, im Gehirn gelten die Newtonschen Gesetze.“ Da hilft es auch nichts, daß ein Fragesteller nahezu die gesamte Zunft der modernen Gehirnforschung und den Nobelpreisträger John Eccles in die Waagschale wirft, der das genaue Gegenteil behauptet. Eccles, so Minsky, macht „nette dualistische Witzchen“ und sei ansonsten einfach ein „naiver Dualist“.
Was Naivität angeht, spricht er dabei mit berufenem Mund: Seine nie eingetroffenen Voraussagen über den kurz vor der Tür stehenden Durchbruch der künstlichen Intelligenz sind Legion. Letzte Frage an Mister Minsky: „Wie schütze ich mich, mit einem Bio-Chip im Hirn, vor einem Hacker?“ — „Woher soll ich das wissen? Das ist dasselbe wie die Frage: Wie schütze ich mich vor einem Hitler?“
Gut gegeben, kann man da nur sagen, zumal in Linz, zu dessen Stadtpaten der Mann aus dem nahen Braunau einst aufstieg. Hier, an der schönen blauen Donau, schlüpfte er aus dem Ei, der erfolgreichste Mind- Hacker des Jahrhunderts; ohne „Bio- Chip“ und „Human Interface“, nur mit einem simplen Volksempfänger, gelang ihm die Umprogrammierung nahezu aller deutschsprachigen Hirne in einer Perfektion, die von einem „Mentopolis“ à la Minsky (so der Titel seines neuen Buchs, Verlag Klett-Cotta) selbst in seinen schwärzesten Zügen schwer zu übertreffen scheint.
„Ich glaube, daß der Computer eine spirituelle Maschine ist.“ (Umberto Eco)
Die Vorstellung des menschlichen Gehirns als 400-Zylinder-Otto-Motor, der mit elektronischem Kompressor auf Turboleistung gebracht werden kann, blieb eine schrilles Röhren auf dem Symposion — vorerst und auf absehbare Zeit nehmen die Baumeister „virtueller Realität“ (VR) den „Umweg“ über den Körper. Datenhandschuh, Datenbrille, Datenanzug heißen die Zaubergeräte, die für die Reise in den kybernetischen Raum, William Gibsons „Cyberspace“ (siehe Interview), vonnöten sind. So merkwürdig unseren Vorfahren die ersten Tiefseetaucher erschienen sein mögen, so kurios mögen uns heute die Datenreisenden anmuten, die sich mit einer elektronischen 3-D-Taucherbrille, verkabeltem Handschuh und Stretchanzug an ihren Computer anschließen. Auch wenn der 15-Minuten-Trip mit der „Sense 8“-Apparatur, den Besucher der „ars electronica“ unternehmen konnten, eher an Schnorcheln im Nichtschwimmerbecken denn an „Yellow Submarine“ erinnerte — die Dimension, die diese Monturen erschließen, sind so neu und so gewaltig wie der unentdeckte Ozean.
„Virtuelle Realität ist ein völlig neues Medium, und sie wird zu einer neuen Form von objektiver Realität, sobald sich mindestens zwei Leute darin aufhalten“, sagt Jaron Lanier, der als erster eine „Reality built for two“ konstruiert hat. Der Musiker mit der zottigen Rasta-Mähne, dessen vor sechs Jahren gegründete Firma „VPL Research“ als führender Ausrüster kybernetischer Tauchgänge gilt, sieht in diesem Medium den revolutionären Beginn eines kulturellen Abenteuers, „das erst in Jahrhunderten richtig stattfinden wird: postsymbolische Kommunikation, die Möglichkeit, ohne Umweg über Symbole zu kommunizieren“. In einem Interview erklärt Jaron Lanier das so: Wenn ich sage: „Ich fliege auf einem Regenwurm zum Mond“, kann ich das in der Wirklichkeit nur über Worte vermitteln. Einen Wurm zu bauen, der zum Mond fliegt, ist unmöglich oder würde zu lange dauern, in einer virtuellen Realität kann ich es tun. „Virtuelle Realität hat die Objektivität der Physik und die Offenheit der Imagination, zwei Dinge, die bisher noch nie kombiniert wurden. Bisher war es nur über Symbole möglich, Träume und Imaginationen mit anderen zu teilen. Virtuelle Realität ist nicht das Fernsehen der Zukunft, es ist das Telefon.“
Daß wir uns schon lange in virtuellen Realitäten aufhalten, ohne uns darüber richtig im klaren zu sein, machte John Barlow deutlich: Schon das Telefon, das unsere Stimme in Lichtgeschwindigkeit überträgt, ist ein Cyberspace. Für John Barlow — Ex-Cowboy, Songwriter der „Greatfull Dead“ und Gründer einer Rechtshilfe für Computer-Hacker, die in den USA derzeit reihenweise und auf dubioser Rechtsgrundlage verurteilt werden („sie sind die neuen Kommunisten“) — ist Amerika insgesamt nichts anderes als eine virtuelle Realität: „Das Fernsehen ist die Landkarte, und nur diese Karte wird noch wahrgenommen, nicht die Landschaft. Hollywood sagt uns, wie wir uns verhalten sollen.“ Er erzählt vom letzten Erdbeben in San Francisco: „Es gab sehr wenig Zerstörung, überall standen die Leute auf den Straßen, redeten, tranken Wein und waren froh, daß so gut wie nichts passiert war. Im Fernsehen aber sahst du nur die wenigen verfallenen Gebäude und hattest den Eindruck einer schweren Katastrophe. Und die Leute? Sie waren gut drauf, aber sobald eine Kamera auftauchte, blickten sie tief erschüttert — that's virtual reality.“
Was kann die computeranimierte Kunst-Welt daran ändern? „Virtuelle Realität ist eine Landkarte, die du bewohnen kannst. Sie ermöglicht, Identitäten dauernd zu wechseln — du kannst als Primat auftauchen, als Fisch oder Krake — und das ist wichtig, um deine Identität zu finden. VR bringt den Massen eine neue Epistemologie.“
Telepräsenz im virtuellen Kadaver
Zuerst allerdings bringt sie praktische Anwendungsmöglichkeiten in einer phantastischen Dimension: Architektenwettbewerbe werden in naher Zukunft nicht mehr anhand von Pappmodellen, sondern durch gemeinsame Begehung der virtuellen Gebäude entschieden. Für schwierige Reparaturen im Weltraum muß kein Astronaut mehr das Schicksal von Major Tom riskieren: Sie werden von einem Techniker im Datenanzug auf der Erde durchgeführt und an einen Roboter übertragen. Für die Behandlung von Giftmüll und Nuklearbrennstäben gilt dasselbe. Chemiker können Moleküle direkt anfassen, um die elektrischen Abstoßungskräfte zu fühlen, Medizinstudenten komplizierte Operationen an virtuellen Körpern üben, die Chefchirurgen treffen sich zur Visite in der infizierten Leber des Patienten... Telepräsenz ist das technologische Stichwort der allernächsten Zukunft.
Wie bei jeder neuen Technologie sind Militär (Flugsimulatoren) und Nasa (Roboter) involviert, aber, so Jaron Lanier, in diesem Fall nicht als Alleinherrscher: „Natürlich ist das Militär brennend an VR interessiert, schon weil die Sache sehr teuer ist, aber in der Entwicklung liegt die zivile Forschung vorne.“ Das Weihnachtsgeschäft in den USA könnte das bald belegen: Als Hit für 1990 gilt da der „Power Glove“ von Mattel, eine 90-Dollar-Version des VPL-Datenhandschuhs, mit dem die Kids im Computerspiel fortan selbst Hand anlegen und den ordinären Joystick beiseite legen können. Wann wird es Sex im Cyberspace geben? „Ich habe gewartet, wer von Ihnen als erster die Frage stellt. Nach meiner Überzeugung ist Sex die physikalischste Angelegenheit der Welt.“ Und von daher als allerletzte in den virtuellen Raum zu übertragen. Daß es irgendwann ein Bio-Chip geben könnte, was derlei möglich macht, glaubt Lanier nicht: „Man kann sich das Gehirn vielleicht als Computer und das Auge als Kamera vorstellen, aber funktionieren tut es anders: Wahrnehmung ist eine aktive Handlung, die Augen sind nicht nur zum Sehen da, der Körper funktioniert stets als Ganzes.“
Wir sind alle naive Hypermaten
Kaum einer der Referenten versäumte die Klarstellung, daß sich die kybernetische Simulation derzeit noch im technologischen Saurierzeitalter befindet, ihre Konsequenzen aber kaum überschätzt werden können. Derrick de Kerkhove, ehemaliger Assistent des Medienwissenschaftlers Marshal McLuhan, kam von der Entwicklung der Wahrnehmungscodes — vom Alphabet über das Theater zum Bildschirm — auf die neue Qualität der virtuellen Realität: „Der Raum zwischen Medium und Rezipient ist aufgehoben, wir sind in direktem Kontakt. Virtuelle Realität wird unsere Wahrnehmungsformen vollständig ändern.“ Wie, das läßt sich leicht ausmalen, wenn alsbald die Möglichkeit besteht, sich seinen virtuellen Körper mit einigen Zusätzen auszustatten und zu lernen, damit umzugehen — magische Tänze neunarmiger Wesen sind nicht mehr länger den Göttern vorbehalten. Während für Brenda Laurel — Theaterwissenschaftlerin und Interface-Designerin bei „Apple“ — virtuelle Realität einst das ekstatische Theater Dyonisos geweihter Spieler zurückbringen könnte, sah Arthur Kroker in seinem Vortrag „Crash USA“ nur die Konsequenz des postmodernen Verschwindens: Ein Volk, das schon zur Couch-Potatoe geschrumpft ist, verschwindet jetzt gänzlich in der Mattscheibe.
Doch noch ist es nicht soweit, und Jaron Lanier als einer der wenigen, die bisher überhaupt die Möglichkeit hatten, für eine Weile in der Mattscheibe zu verschwinden, um auf einem virtuellen Planeten wieder aufzuerstehen, berichtet von einer Erfahrung, die das distanzierte Einbahnstraßen-Fernsehen offensichtlich nicht liefern kann: „Wenn ich nach ein paar Stunden die ,Goggels‘ absetze und dann einen Baum sehe, spüre ich irgendwie besser, was das ist, ein Baum.“
Braucht die industrialisierte Menschheit die totale Simulation, um sich ihrer Wurzeln wieder bewußt zu werden? Wird der Wahn ewigen Wachstums und endlosen Konsums erst überwunden, wenn er in einer kompletten „Als ob“-Welt und in virtuellem Shopping auf die Spitze getrieben werden kann? Kann der unaufhaltsame Drang zu den krankmachenden Ekstasen der Pharmaindustrie (Heroin, Kokain, Alkohol) erst ein Ende finden, wenn der „Cyberspace“ drogenfreie Highs auf einer nach oben offenen Erlebnisraum-Skala ermöglicht? „Wir sind alle naive Hypermaten“, so das Motto des Konferenz-Organisators Peter Weibel — Hypermaten, weil wir schon längst an Apparate und Kunstwelten angeschlossen sind, in denen uns zum Beispiel Radiostimmen erzählen, was wir anziehen oder über Herrn Hussein und Herrn Bush denken sollen, naiv, weil wir uns dessen nicht bewußt sind und die Medien — vom Alphabet bis zum Cyberspace — als Autorität blind akzeptieren, statt sie unter Kontrolle zu bekommen als das, was sie sind: Erweiterungen unseres Selbst. Insofern ist nichts naiver, als durch das Fernsehen (!!!) oder die gute alte Gutenberg-Galaxis (!!) jetzt vor den Gefahren des Mediums „virtuelle Realität“ zu warnen — es klingt wie die Klagen der antiken Steinmetzinnung bei der Erfindung des Papiers.
Gewiß wäre ein Haufen Bullshit unausgedrückt geblieben, wenn noch bis heute Nachrichten in Stein gemeißelt werden müßten, und ein Haufen derselben Qualität bliebe erspart, würde die Schaffung virtueller Realitäten morgen verboten — daß sich eine Cyberspace-Opera aus Hollywood von den Soap-Operas großartig unterscheiden wird, ist nicht zu erwarten. Zu erwarten ist aber, daß der „Personel Cyberspace“ im 21. Jahrundert so selbstverständlich zu den Menschenrechten zählt wie heute der Besitz von Papier und Bleistift. Daß dabei der menschliche Geist vom Geist der Maschinen endgültig überrollt wird, muß nicht befürchtet werden — mögen sie unsere Körper bei allen möglichen Verrichtungen ersetzen, dem Geist werden die Maschinen auf absehbare Zeit unterlegen sein. Ein Vergleich, den Dr. Wau vom „Chaos Computer Club“ anstellte, verdeutlicht den fundamentalen Unterschied: Die gesamte Computer-Chip-Produktion des Jahres 1989 zusammengenommen leistet weniger als ein einziges menschliches Hirn: „Was ihre Kapazität betrifft, stellt sich nur die Frage: Fliegenhirn oder Spatzenhirn?“