„Wir haben in der Vergangenheit zu vieles kopiert“

■ Rückkehrer aus der DDR sind über Deutschland eher erstaunt/ „Die Deutschen sind so aufs Geld und auf den Konsum fixiert“/ Wendehälse, gesehen an der Universität Leipzig/ „Unsere Alternative ist nicht die Bundesrepublik“/ Wie lange kommt noch brüderliche Hilfe aus der UdSSR?

Über 50 Prozent der Befragten halten allerdings das herrschende System des Poder Popular für verbesserungsbedürftig.

Kubaner müssen den Gürtel bald enger schnallen

Alicia Donoso verließ das Haus um acht Uhr, um einzukaufen. Um eins kehrte sie erschöpft zurück. Die Ausbeute: ein Kilo Pollenta, ein Kilo Mehl und ein Kürbis. Dreimal hatte sie sich auf dem Markt für eine Stunde in eine Schlange gestellt, um Fleisch, Gemüse und Ananas zu kaufen. Dreimal wartete sie vergebens auf die angekündigten Waren. Die Stände blieben den ganzen Vormittag leer. Selbst für Brot und Eier, die derzeit in Havanna reichlich und ohne Rationierungskarte erhältlich sind, muß man anstehen. Nach einem frustrierenden Tag sind die Leute zunehmend gereizt und nervös. „Wenn es in Kuba zu Rebellionen kommt, dann wegen der Versorgung“, urteilt ein europäischer Landeskenner. Ende 1988, kurz vor dem erwarteten Besuch von Gorbatschow, der dann wegen des Erdbebens in Armenien verschoben wurde, tauchten vereinzelt Demonstranten in den Straßen auf. „Fidel, wir haben Hunger“, stand auf den Transparenten.

Seither hat sich zwar nicht das Angebot auf den Märkten, wohl aber die Polizeipräsenz in den Straßen erhöht. Bisher ist es der kubanischen Regierung gelungen, mit sehr selektiver Repression die Kontrolle zu behalten. Dank der Nachbarschaftskomitees (CDR — „Komitees zur Verteidigung der Revolution“), die in jedem Wohnblock für Sicherheit und soziale Kontrolle sorgen, und des Staatssicherheitsdienstes, der über Dissidenten besser Bescheid weiß, als diese selbst, ist es in Kuba fast unmöglich, Geheimnisse vor dem Staat zu haben.

Seit einigen Monaten schon wird die Bevölkerung auf eine bevorstehende Austeritätszeit vorbereitet, eine „Sonderperiode in Friedenszeiten“. Das bedeutet, daß die Rationen auf den Lebensmittelkarten wahrscheinlich gekürzt werden, daß zunehmend mit Energieausfällen zu rechnen ist, daß der Ausbau der Sozialeinrichtungen gestoppt wird. Schon jetzt ist die Verfügbarkeit von Lebensmitteln auf dem legalen (und teureren) Parallelmarkt geringer als noch vor einem Jahr.

Ein neuer Plan zur Förderung des Nahrungsmittelanbaus hat die Selbstversorgung zum Ziel. Allein, die Unterversorgung ist nicht allein ein Produktionsproblem. Der Landwirtschaftsminister hat unlängst zugegeben, daß ein Drittel der Ernte wegen unzureichender Transport- und Lagermöglichkeiten verkommt. Ein Problem, das zunimmt, seit die ehemals sozialistischen Handelspartner für ihre Lieferungen Dollars verlangen.

Sowjets wollen Kuba nicht im Stich lassen

Einzig die Sowjetunion hält noch an ihren Vereinbarungen fest. Die UdSSR ist Kubas mit Abstand wichtigster Handelspartner, auf den 70 Prozent des Warenaustauschs entfallen. Weitere 15 Prozent des Außenhandels wurden bisher mit den restlichen RGW-Ländern abgewickelt. Dieser Prozentsatz reduziert sich drastisch, während im diesjährigen Handelsabkommen mit der Sowjetunion sogar eine nominelle achtprozentige Steigerung vereinbart werden konnte.

Ab Januar 1991 wird aber auch der Austausch mit den Sowjets auf Dollarbasis funktionieren. Was das konkret bedeutet, kann auch Boris Sokolow, Wirtschaftsattaché an der Botschaft in Havanna, noch nicht sagen. Seit Juni laufen Verhandlungen. Am neuen Abkommen, das im Oktober vom kubanischen Minister Cabrizas und dem sowjetischen Wirtschaftsdelegierten Katuschew unterzeichnet werden soll, wird derzeit noch gefeilt.

Doch weder der Zuckerpreis, den Moskau zahlen wird, noch die Erdölquote die geliefert und der Ölpreis der verrechnet werden soll, sind schon verbindlich ausgehandelt.

Bisher hatten die Sowjets rund dreizehn Millionen Tonnen Erdöl und Derivate bereitgestellt, die teilweise für Devisen auf dem Spotmarkt in Europa verkauft wurden. Laut kubanischen Quellen sind im ersten Halbjahr 1990 nur vier von den zugesagten sechs Millionen Tonnen angekommen.

Einige Industriebetriebe arbeiten deshalb mit reduzierter Kapazität und ein Teil der Hadels- und Fischereiflotte kann wegen Treibstoffmangels nicht auslaufen. Havanna ist immer wieder von Stromausfällen betroffen.

Die Verzögerungen erklären sich dadurch, daß die Sowjets seit Jahresbeginn nicht mehr den gesamten Warenverkehr mit Kuba auf ihren eigenen Schiffen abwickeln wollen. Rund 300 Ozeandampfer sollen ständig durch den Kuba-Verkehr gebunden sein. Das wollen sich die Sowjets auf dauer nicht leisten.

Insgesamt, so beteuert Boris Sokolow, sei die UdSSR ihren Verpflichtungen zu 90 Prozent nachgekommen. Der jährliche Warenaustausch zwischen den beiden Ländern liegt bei etwa neun Milliarden Rubel (1 Rubel = etwa 3 DM), wobei ein Defizit von 600 Millionen Rubel durch Kredite überbrückt werden muß.

Zusätzlich zu diesen Krediten hat die Sowjetunion laut Sokolow im zu Ende gehenden Jahrfünft 2,5 Milliarden Rubel als Wirtschaftshilfe zugeschossen — vor allem für Investitionen und Anlagenbau. Die westlichen Angaben von jährlichen Zuschüssen in Höhe von fünf Milliarden Dollar seien also maßlos übertrieben. Ein westlicher Diplomat weist außerdem darauf hin, daß sich die Sowjets für die Vorzugspreise für Zucker und Öl teilweise durch überhöhte Preise für ihre Maschinen schadlos halten.

Laut sowjetischen Quellen ist Gorbatschows politischer Wille, die Kubaner über Wasser zu halten, unbestreitbar. Außerdem hat Fidel Castro sich bereiterklärt, 50.000 Tschernobyl-geschädigte Kinder aufzunehmen, und damit eine moralische Schuld geschaffen. Die ersten tausend sind schon in der Pionierstadt, wenige Kilometer östlich von Havanna, eingezogen. In diesem Kindererholungsheim werden sie ärztlich betreut, im Sonderfall auch operiert.

Hoffnungsträger sind Tourismus und Biotechnologie

Der Gesundheitstourismus, der Export von Arzneitmitteln (Kuba hat eine Reihe von Medikamenten entwickelt, die es sonst nirgends gibt) und der Tourismus sind die Hoffnungsträger des Landes. Die wirtschaftspolitische Prioritätenliste, die helfen soll die wirtschaftliche Abhängigkeit zu lockern, sieht Investitionen in die Fremdenverkehrsindustrie, die Biotechnologie, die Nahrungsmittelproduktion und die Importsubstitution von Maschinenteilen vor. Um den devisenträchtigen Tourismus ins Land zu locken, hat Fidel Castro sogar das Prinzip der sozialistischen Wirtschaft durchbrochen und ausländische Investoren mit der Aussicht auf fette Rendite angelockt.

Eine Reihe von Hotels in Havanna und am Paradestrand Varadero, 140 Kilometer östlich von Havanna, werden als Joint-ventures mit spanischen Geldgebern gebaut. Ein spanischer Unternehmer hofft, daß sich seine Investition in nur drei Jahren amortisiert. Letztes Jahr brachte der Fremdenverkehr Kuba offiziell 200 Millionen Dollar ein. Intourist-Direktor Rafael Sol ist zuversichtlich, daß ab spätestens 1995 jährlich 500 Millionen herausspringen können. Während ganz Kuba heute kaum 20.000 Hotelbetten bietet, sollen bis Ende 1991 allein in Varadero 5.000 zusätzliche Zimmer geschaffen werden.

Kuba zieht die Mittelstandstouristen an, die die billigen Pauschalangebote schätzen und sich vom oft mangelhaften Service nicht abschrecken lassen. Allein aus der BRD sind 1989 über 45.000 Urlauber eingereist, aus Spanien 36.000. Die Tendenz ist steigend.

Um die ehrgeizigen Investitionspläne verwirklichen zu können, haben die Kubaner zu neuen Arbeitsmethoden gefunden. Die strategischen Projekte werden von sogenannten Avantgarde-Kontingenten gebaut, staatliche Unternehmen mit besonders tüchtigen Arbeitern, die, von bürokratischen Hindernissen befreit, bevorzugt verpflegt und besser bezahlt werden. Der Vorarbeiter eines Kontingents kann mit 500 Pesos im Monat mehr verdienen als ein Chefarzt. Bisher sind etwa 40.000 Arbeiter in Kontingente eingebunden — das ist nicht mehr als zwei Prozent der aktiven Bevölkerung.

Effizienz und Fleiß gehören normalerweise nicht zu den hervorstechendsten Eigenschaften der kubanischen Arbeitnehmer. Im Vorjahr gingen allein durch „unentschuldigtes Fernbleiben vom Arbeitsplatz“ fünf Millionen Arbeitsstunden verloren. „Unsere Arbeitsgesetzgebung fördert die Faulpelze und die Nichtsnutze“, wettert Abel Prieto, der Vorsitzende der nationalen Künstlervereinigung UNEAC.

In Kuba muß man sich wiederholter schwerer Verstöße schuldig machen, um seine Stelle zu verlieren. „Hier wird es als soziale Errungenschaft betrachtet und allgemein anerkannt, daß du nicht gefeuert wirst, wenn du einmal eine Nacht durchfeierst und dann nicht aus den Federn kommst“, erzählt ein Verlagsarbeiter, der selbst diese Zuckerseiten des Arbeitslebens reichlich auskostet. Deswegen haben die meisten Kubaner, die auf das Problem angesprochen werden, wenig Interesse an kapitalistischer Arbeitsdisziplin.

Echte Reformen werden nur zögerlich diskutiert

Mehr Disziplin und Effizienz werden in den kommenden Krisenzeiten gefragt sein. Die Parteizeitung 'Granma‘ meldete am 2. August, daß die Werkstätten des Transportministeriums heuer die serienmäßige Herstellung von 55 verschiedenen Ersatzteillinien für die ungarischen „Ikarus“-Autobusse aufgenommen haben. Bisher wurden die Einzeiteile der Busse komplett aus Ungarn geliefert und in Kuba zusammengebaut. Vor einigen Wochen ging sogar der erste in Kuba produzierte Bulldozer in Betrieb. Nur Kugellager und andere Präzisionsteile mußten importiert werden.

„Die Zeit der mageren Kühe ist gar nicht so übel“, dozierte Armee- Chef Raul Castro bei einer Rundfahrt durch die Ostprovinzen, „denn sie zwingt uns, Kreativität zu entwickeln und die Probleme anzugehen.“

Die Befürchtung, daß die Öllieferungen, von denen die gesamte kubanische Energiewirtschaft abhängt, nächstes Jahr drastisch gekürzt werden könnten, hat eine Reihe von Sparappellen ausgelöst. Ein Textilkombinat, so wird in der Presse stolz vermeldet, hat in den letzten zwei Jahren durch rationellere Nutzung der Maschinen 16.900 Tonnen Öl eingespart.

Lastfahrzeuge, die ohne Ladung in die Provinz fahren, werden von der Polizei angehalten und mit irgendwelchen Waren beladen. Während des Karnevals Ende Juni ertappten die Sicherheitskräfte Dutzende Funktionäre, die unerlaubt in Dienstfahrzeugen unterwegs waren. In den Medien läuft eine Kampagne gegen Verschwendung: Ein mehrfach zitiertes Musterbeispiel ist ein Medikament, das einzeln verpackt in den Apotheken verkauft wird, obwohl die Ärzte nie weniger als drei Einheiten des Präparats verschreiben.

Echte Reformen innerhalb des zentral gelenkten Wirtschaftssystems werden nur sehr zögerlich diskutiert. Mit großem Mißmut nahm die kubanische Führung zur Kenntnis, daß bei den Diskussionen zur Vorbereitung des Parteikongresses immer wieder die Forderung nach einer Freigabe der Bauernmärkte erhoben wird. Diese zu Beginn des Jahrzehnts geschaffenen Märkte, die es den Landwirten erlauben, Obst und Gemüse auf eigene Rechnung an den Kunden zu bringen, waren im Zuge der „rectificacion“ vor vier Jahren wieder verboten worden. Zwar hatte sich — dank des materiellen Anreizes für die Produzenten — das Nahrungsmittelangebot in den Städten verbessert, doch entstand gleichzeitig eine Schicht von Zwischenhändlern, die nach Belieben die Preise hochtrieb und bald auch andere, preisgestützte Güter aufkaufte und die Spekulationspreisen anbot. Fidel Castro spricht von der „Agrarbourgeoisie“, die auf Kosten der Konsumenten entstanden sei.

„Etwas mehr Markt würde nicht schaden“

Mit ihrer Effizienzkampagne versuchen die Wirtschaftsverantwortlichen, die Versorgungslage in Havanna und anderen Großstädten zu verbessern. Doch wenn sie scheitern — was kaum zu verhindern ist — werden sie sich auf dem Kongreß den Protesten der Konsumenten stellen müssen.

Auch der Deutschprofessorin Tamara Castillo, die einen vierjährigen Sohn durchzufüttern hat, machen Knappheit und Schlangestehen zu schaffen: „Vor allem die jungen Leute wollen sich gern nett anziehen und Kosmetika kaufen.“

Hunger leiden muß aber niemand in Kuba. Tamara, die beide Teile Deutschlands gesehen hat, nimmt lieber die Mangelwirtschaft in Kauf, als die völlige Öffnung und damit die Rückkehr der Exilkubaner aus Miami zu riskieren. „Die würden das halbe Land als ihr Eigentum reklamieren. Jetzt haben wir alle zumindest billige Wohnungen und Stabilität.“

Eine Zwischenlösung kann sie sich aber ganz gut vorstellen: „Etwas mehr Markt und Privatinitiative würde uns sicher nicht schaden.“