Wo bleibt die arabische Demokratiebewegung?

■ Der arabische Publizist Samir al-Khalil erklärt die irakische Annexion Kuwaits durch das arabische Einheitsstreben/ So lange die arabische Intelligenz nicht von dem abstrakten Einheitsgedanken wegkommt, kann sich keine politische Kultur entwickeln

Es mag bizarr erscheinen, doch in den Augen der Irak beherrschenden Baath-Partei bedeutet die Annexion Kuwaits einen Akt der Befreiung des arabischen Volkes. Denn die anti- imperialistische Rhetorik des Pan- arabismus dreht sich im wesentlichen um die Vereinigung einer künstlich zerstückelten Einheit. Und diese Zerstückelung der arabischen Welt, das gilt dem Baathismus als Tatsache, kann ausschließlich den Interessen fremder Mächte dienen: also den USA, Großbritannien, Frankreich, nicht zuletzt Israel.

Vor 50 Jahren attackierte der syrische Begründer der Baath-Partei, Michel Aflaq, die bürgerliche Demokratie. Mehr als Spott war ihm eine „Regierung die regiert, ein Parlament, das die Regierung kritisiert, das widerspricht und eine Opposition vertritt“ nicht wert. Nationalismus war seiner Meinung nach „vor allem Liebe“. Die arabische Identität eines Menschen wurde gemessen an der Intensität seiner tiefsten Gefühle gegenüber der einen arabischen Nation. Araber sein konnte überhaupt nur, wer an die imperative Einheit aller Araber glaubte. Und das ist die Kernidee des Baathismus.

1978 dann führte der stellvertretende Vorsitzende des in Bagdad ansässigen nationalen Vorstandes, Shilbli al-Aysami, detailliert auf, auf welch untrennbare Weise die Vision von Freiheit mit dem Sozialismus- Konzept der Baath verbunden ist. Demnach muß die bürgerlichen Demokratie, die für den Kapitalismus und gegen die arabische Einheit steht, durch eine Volksdemokratie ersetzt werden, die gegen den Imperialismus eintritt, für arabische Einheit und für den Sozialismus.

Diese drei Worte — Einheit, Freiheit und Sozialismus — tauchen stets und ständig überall in Irak auf: als Titelzeile einer jeden Zeitschrift oder Publikation, als Transparent über jeder größeren Straße, als riesige Graffiti an Hauswänden. Und sie sind so oft wiederholt worden, daß viele Irakis vergessen haben, daß diese Worte abseits der Bedeutung, die ihnen jahrzehntelang von der Baath-Partei eingebläut wurde, auch noch einen anderen Sinn haben könnten. Die Moral eines Staates sollte, genau wie die eines Individuums, zu allererst an seinen eigenen Wertvorstellungen gemessen werden. Die Maximen der Außenpolitik weichen alle nur selten ab von den Regeln eines Staates im Umgang mit seinen Bürgern.

In diesem Zusammenhang muß man auch die Haltung der USA und Westeuropas gegenüber dem Irak während des Golfkrieges gegen den Iran sehen. Und der Westen hielt seine indifferente Haltung gegenüber Bagdad aufrecht, als die Baath- Partei sich an die Vernichtung der kurdischen Bevölkerung machte. Die Vernichtung der Kurden, war sie auch noch so grauenvoll, bedeutet dem irakischen Regime keinen Rechtsbruch oder die Verletzung irgendeiner Moral, die diesem Regime begreiflich oder bewußt war.

Ein Gesetz, welches das gesamte Rechtssystem des Irak 1977 reformierte, schließt mit großer Sorgfalt alle Personen von der Staatsbürgerschaft aus, die „politisch, wirtschaftlich oder intellektuell eine feindliche Haltung gegen die Revolution und ihr Programm“ hegen. Dies ist ein Destillat aller Erklärungen der Baath zur arabischen Identität seit 1940. Kurz und knapp ist es ein Weg, jene auszugrenzen, die die arabische Nation nicht ersthaft genug lieben.

Zu jedem Kriterium der Mitgliedschaft gehört untrennbar das Kriterium der Ausgrenzung. Deshalb gibt es nicht den geringsten Unterschied zwischen der Annexion Kuwaits und der Vernichtung separatistischer Kurden. Hier herrscht höhere Gewalt: was künstlich und fälschlich zerstückelt wurde, gehört zusammen. So erklärt sich der selbstherrliche Ton der offiziellen Stellungnahmen, so erklärt sich auch die ehrliche Beleidigung gegenüber den als Heuchelei westlicher Moral empfundenen Forderungen nach der Einhaltung internationalen Rechts und der Wiederherstellung der kuwaitischen Souveränität. Die Kuwaitis wissen, daß der Westen kein großes Aufheben machen würde, ginge es nicht um die Erdölreserven Kuwaits.

Weitaus tragischer aber ist, daß viele Inhalte der Baath-Philosophie der arabischen politischen Kultur als fast selbstverständlich erscheinen. In den verbreiteten Trends des modernen arabischen Diskurses hat die Vision von Freiheit niemals die westliche Idee von individueller Freiheit, der Autonomie eines Teiles vom Ganzen, erfaßt. Ein Staat wie Kuwait ist in den Augen der meisten Araber künstlich und historisch nicht legitim. Die wenigen maßgeblichen Ideologen, die mit dem Gedanken von Autonomie gespielt haben und mit der Idee, Teile der arabischen Welt des 20. Jahrhunderts könnten legitime Souveränität genießen, wurden mit dem großen Besen ausgekehrt: sie seien zu sehr verwestlicht.

Sicherlich hat sich kein arabischer Staat so verurteilenswert gezeigt wie Irak. Und doch: Nicht ein einziger Staat der Region ist demokratisch organisiert. Nicht ein einziger hat die Unverletzlichkeit des Individuums oder den Schutz von Minderheiten als Recht akzeptiert und entsprechend in der Verfassung verankert.

Nur wenig rosiger ist die Lage der arabischen Intelligenzija. Nehmen wir als Beispiel ein 900 Seiten starkes Buch aus dem Jahre 1984: Die Krise der Demokratie in der arabischen Welt. Das Buch versammelt die Standpunkte von mehr als 100 arabischen Wissenschftlern und Politikern des liberalen Spektrums, die sich im Rahmen eines fünftägigen Symposiums trafen, alle Aspekte der Demokratie abstrakt und in den konkreten Zusammenhängen arabischer Staaten zu diskutieren. Dieses Symposium mußte in Zypern stattfinden, denn alle angesprochenen arabischen Staaten untersagten die Versammlung. Allein diese ungeheuerliche Tatsache wurde in höchstens zwei Beiträgen am Rande erwähnt. Ansonsten hörte man die abstruse Sprache reiner Theorie, keinesfalls geeignet, irgend jemand zu kritisierenn oder irgend etwas anzugreifen. Nicht ein einziger Teilnehmer berichtete etwa von konkreten Mißachtungen demokratischer Prinzipien seinem Heimatland. Umso mehr war man beschäftigt, Bestätigungen oder Parallelen demokratischer Visionen im Erbe arabisch-islamischer Tradition auszumachen. Auf die arabische Einheit waren alle Teilnehmer eingeschworen. Nur die wenigsten erinnerten an die Demagogie, mit der dieser Begriff behaftet wurde. Nichts wurde über die verschiedenen moralischen Vorstellungen einzelstaatlicher Souveränität, nichts über individuelle Freiheit, nichts von Toleranz, Selbstbestimmung gesagt. Nichts zum Status nicht-arabischer Miderheiten, wie etwa der Kurden.

Und dann stellt die Einleitung des Buches fest, „ein zentraler Anlaß, der Demokratie-Frage mit besonderer Anstrengung nachzugehen, sei das völlige Versagen der arabischen Regimes, die israelische Aggression zu konfrontieren“. Als ob nicht gerade mit der Parole „Alles für den Kampf gegen Israel“ in der Vergangenheit jedes Recht auf persönliche Freiheit, individuelle Entwickung vom Tisch gewischt worden wäre.

Doch gab es auch in Osteuropa nur sehr schwache und weit entfernt klingende Rufe der demokratischen Opposition, selbst unmittelbar vor dem Sturz des dortigen Systems. Wie auch immer die internationale Krise endet, die sich jetzt am irakischen Überfall auf Kuwait entsponnen hat, in der arabischen Welt wird sie wie ein Katalysator wirken. Schon allein deshalb ist von größtem Gewicht, wie sie gelöst wird.

Schon jetzt haben sich über der irakischen Invasion enorme politische Risse in der arabischen Welt aufgetan. Zwar ist diese Invasion eine bisher einmalige Angelegenheit, jedoch kein Präzedenzfall. Denn der substantielle Hintergrund der Krise am Golf liegt im elementaren Scheitern der regionalen politischen Kultur. Sie hat es weder geschafft, Fragen politischer Legitimität, von Menschenrechten, persönlicher Freiheit, Staatsbürgerschaft als Forderung zu formulieren, noch sie in der Praxis zu klären.

Saddam Hussein ist nicht nur der gnadenlose Despot eines brutalen Systems. Saddam zwingt sich einer Welt auf, die schon längst in sich selbst verdorben war. Völlig sinnlos, diesem Saddam Hussein alternative Wertvorstellungen und Moral entgegenzuhalten. Samir al-Khalil/

Übersetzung: Petra Groll

Aus: 'New Statesman & Society‘