Ein Gespräch über die Verfassung der Deutschen

„Kuratorium“ und „Heinrich-Böll-Stiftung“ luden zum Verfassungstag nach Weimar/ Zweifel über die Realitätstüchtigkeit des Projekts/ Bitterkeit der DDR-Bürgerbewegten/ Zukunftsweisende Elemente im Verfassungsentwurf des „Runden Tisches“  ■ Aus Weimar Christian Semler

Wenn durch Tagungsorte historische Konstellationen symbolisiert werden sollen, hätte das „Kuratorium für einen demokratisch verfaßten Bund deutscher Länder“ und die „Heinrich Böll-Stiftung“ für ihr Projekt einer gesamtdeutschen Verfassung kaum eine günstigere Stätte wählen können: In Weimar verknoten sich die hellsten und menschenfreundlichsten Entwicklungslinien der deutschen Geschichte mit ihren finstersten und barbarischsten. Jorge Semprun hat in seinem Was für ein schöner Sonntag Goethes Geplauder mit Eckermann und einen kurzen Zusammenstoß mit einem SS-Bewacher, der für ihn — den Häftling — fast das Ende bedeutet hätte, zu einem einzigen, ort- und zeitgleichen Alptraum verdichtet. Semprun war es auch, der die Spuren der stalinistischen Unterdrückung bis in die Widerstandsgruppen im KZ Buchenwald zurückverfolgte und damit dem offiziösen Antifaschismus der SED die Legitimationsgrundlage entzog. Ein historisches Klischee — vielleicht.

Die Freunde einer neuen Verfassung, die sich am Wochenende in Weimar versammelten, reklamierten auf alle Fälle für sich, und das mit Recht, eine doppelte Frontstellung: gegen den völkischen Nationalismus, der den Staatsbürger mit dem „ethnisch“ Deutschen identifiziert und gegen den bürokratischen Kollektivismus, der Menschen wie Bürgerrechte einem angemaßten Anspruch, den „richtigen“, objektiven Entwicklungsweg zu verwirklichen, unterwirft.

Warum jetzt, gerade jetzt, eine Verfassungsdebatte? Wird das Interesse und die Aufmerksamkeit vor allem der Noch-DDR-BewohnerInnen nicht vollständig absorbiert von der Notwendigkeit, kräftig die Ellbogen zu gebrauchen? Anläßlich des Brainstorming, zu dem sich am Vorabend der Tagung demokratische Verfassungsjuristen und Menschenrechtsbewegte aus beiden deutschen Staaten versammelten, faßte der Rechtsexperte Ulli Preuß noch einmal die Beweggründe zusammen: jede demokratische Verfassung konzentriere gesellschaftliche Übereinkünfte. Bezogen auf Deutschland sei sie die juristische Form des Sozialvertrages, den die Menschen in der BRD und der DDR erst noch schließen müßten. Die Arbeit an einer gemeinsamen Verfassung erlaube auch eine Reflexion über die künftige Stellung des geeinten Deutschland in der Welt. Die Absage an den nationalen Machtstaat könne sich dann in Verfassungsartikeln materialisieren.

Für die Verbesserung des Grundgesetzes

Preuß und viele andere machten klar, daß sie das Grundgesetz als Basis einer Verfassungsdiskussion akzeptierten. Dennoch entzündete sich gerade hier die Kontroverse. Die Befürchtung wurde laut, mit der Verfassungsdiskussion würde eben doch das Grundgesetz zur Disposition gestellt — und das zu einem Zeitpunkt, wo seine Garantien und Organisationsprinzipien Bestandteil des „Zivilisationsprozesses“ der westdeutschen Gesellschaft geworden seien. Nichts gegen Verbesserungen, aber alles gegen eine Generalrevision. Hier fühlten sich vor allem Wolfgang Ullmann und Gerd Poppe als Mitautoren des „Runden Tisch“-Entwurfes provoziert. Sowieso erfordere der Einigungsprozess in großem Umfang Grundgesetzänderungen. Die Frage sei nur, ob sie von der Ministerialbürokratie durchgezogen oder demokratisch gestaltet, ob die Initiativen und Vorschläge aus der DDR berücksichtigt oder ein weiteres mal kalt übergangen würden.

Auch auf der „Festveranstaltung“ des Verfassungstages war die Verbitterung der DDR-Bürgerbewegten allgegenwärtig. Sie kam vor allem in Ullmanns glänzend poiniterter Rede zum Ausdruck, einem Beitrag, der vom Verlust der Sprache angesichts der pathologischen Entfremdung und der extremen Ungerechtigkeiten auf dem Boden der Noch-DDR handelte. Exemplarisch ging Ullmann am Beispiel des Patriarchalismus auf die Beschränktheit noch der besten Verfassungsdeklarationen ein. Der Rütli-Schwur „Wir wollen sein ein einig Volk von Brüdern“ vergißt eben eine Kleinigkeit. Schon die Rede von der Verantwortung vor Gott in der Präambel des Grundgesetzes sei, gemessen an der religiösen Gleichgültigkeit der Mehrheit, eine Lüge. Ullmann forderte nicht weniger als eine gesellschaftliche Verfassung, das heißt eine Verfassung der Gesellschaft, die jenseits des Grundmusters hierarchischer Herrschaft angesiedelt sei. Gerade hier, wo er „einen weiten Steinwurf wagte“, kam auch die größte Schwäche seines und seiner Freunde Unternehmen zutage. Wie kann man Veränderungen großer Tragweite, für die langwierig um gesellschaftliche Mehrheiten gekämpft werden muß, in Form einer auf zwei Jahre limitierten Verfassungsdiskussion durchsetzen? Kann beispielsweise die Abschaffung der Bundeswehr in diesem Zeitraum realistisch ins Auge gefaßt werden?

Dabei stehen die Chancen, für eine Verfassungdiskussion auch innerhalb der politischen Klasse „Raum“ zu schaffen, so schlecht nicht. Wie Lea Rosh, (die auf der Veranstaltung eindringlich aufgefordert hatte, in der Präambel des Grundgesetzes an den Holocaust zu erinnern), mitteilte, sympathisieren Grüne, SPD und einige Liberale mit der Idee eines Verfassungsrats. Dieses Gremium wäre nach den Vorstellungen des Kuratoriums von den Legislativen der Länder zu beschicken, Experten und Vertreter von Bürgerbewegungen könnten hinzugezogen werden, den künftigen DDR-Ländern seien 50 Prozent der Sitze zu sichern. Das Interesse der Politiker an einer Verfassungsdebatte sei gegenwärtig vielleicht sogar größer als das in „der Gesellschaft“, meinte ein der SPD nahestehender Professor.

Deutschland als Einwanderungsland

Für die eigentlichen Beratungen des Verfassungstages in zahlreichen Arbeitsgruppen blieben nur kärgliche zwei Stunden übrig. In der Arbeitsgruppe über Menschen und BürgerInnenrechte wurde eine Fülle von zum Teil schon sehr präzisen Änderungsvorschlägen gemacht, wobei die Flüchtlings-, Asyl- und AusländerInnenproblematik dominierte. Die „Gesellschaft für bedrohte Völker“ stellte den Antrag vor, den Begriff „Flüchtling“ entsprechend der Haager Konvention gesetzlich möglichst weit zu fassen. Nur dadurch, daß Deutschland zum Einwanderungsland erklärt werde, könne die Asylproblematik entschärft werden. Gerade aber diese offensichtliche Tatsache anzuerkennen, fällt nicht nur den Regierungen schwer, sondern auch der Mehrheit der Bevölkerung. Gerade in der AusländerInnenfrage erweist sich, darin waren sie die Diskutanten einig, die Überlegenheit des „Runden Tisch“-Entwurfs über das Grundgesetz. Nicht nur wird der Begriff „Deutscher“ durch „Bürger“ ersetzt, auch im systematisch durchgehaltenen Primat der Menschenrechte ist der DDR- Entwurf mutiger und zukunftsweisender.

Nur ganz kurz blitzte in der Arbeitsgruppe die Idee von der „Drittwirkung“ der Grundrechte, das heißt ihre Verbindlichkeit für das Verhältnis der Menschen untereinander auf. Hier hat der „Runde Tisch“-Entwurf mit seiner ebenso schwierigen wie schönen Formulierung „Jeder schuldet jedem die Anerkennung als Gleicher“ und einem umfassenden, als unmittelbar rechtsgültig angesehen Anti-Diskriminierungs-Katalog Neuland betreten. Die Diskussion zu diesem Thema, die beim nächsten Verfassungstag in Potsdam fortgesetzt werden soll, verspricht noch spannend zu werden.