Kopfgeburten sinnenfroh

■ „Mathematik sehen“: Ausstellung in der Unteren Rathaushalle / Mathematik von Spiel bis Kunst

Und wenn die reine Mathematik etwas Schönes wäre? Etwas, das Spaß macht? Wenn die komplexesten Begriffe der Differentialrechnung anschaulich wären, z.B. grafisch darstellbar? Dann wären die MathematikerInnen fein raus, könnten ihre hermetische Sphäre verlassen, mit allen reden, Forschungsvorhaben incl. Finanzierungsanträgen auch Nichtfachleuten plausibel machen und SchülerInnen fürs Fach begeistern. Und die Zeit wäre vorbei, da es als schick galt, von Mathematik keine Ahnung zu haben.

Die Mathematik hat ein Imageproblem (vgl. taz vom 18.9.), und die in Bremen tagende, 100 Jahre alte Deutsche Mathematische Gesellschaft will das ändern. Zu diesem Zweck wurde in der Unteren Rathaushalle eine Ausstellung eingerichtet, die sich ausdrücklich auch an SchülerInnen richtet und das spielerische, kunstnahe Gesicht der Mathematik zeigen will. „Mathematik sehen“ heißt das Projekt, das die gefürchteten Kopfgeburten in die Sphäre der Sinne befördern will: mit „mathematischen Gegenständen“ früher Jahrhunderte, Jetztzeit-Kunstobjekten, mathematischen Lehrfilmen, Spielmaterial zum Anfassen und einigen Computern, die — teils unter Anleitung, teils selbständig — benutzt werden dürfen.

„Sichtbar gemachte Mathematik“: Mit Seifenwasser und bizarr geformten Drahtschlingen lassen sich wunderschöne „Seifenblasen“ in niegesehener Geometrie herstellen, die immer eine Tendenz haben: eine „Minimalfläche“ herzustellen, die Fläche geringster Spannung. Solche Flächen lassen sich voraussagen, unter erheblichem mathematischen Aufwand, und im Computer simulieren, wovon einige sehr schöne Grafiken zeugen. Die Minimalflächenberechnung hat seit dem 18. Jahrhundert eine erhebliche Bedeutung in der Mathematik.

Mit einer der Drahtschlingen entsteht das berühmte „Möbiusband“ (ein Ring mit nur einer Seite); an einem Großmodell kann man mit den Händen langfahren. In der Abteilung „Körper konstanter Breite“ darf man versuchen, eine Art überdimensionaler Buchecker aus einer Kiste mit Öffnungen zu praktizieren und bekommt den Beweis der grundsätzlichen Unmöglichkeit. Was fürs Ohr ist eine Grafikorgel, die Eigenkompositionen per „Maus“ nahelegt.

Breiten Raum nehmen Darstellungen „algebraischer Flächen“ ein, der optische Zugang zu komplexen Funktionen oder Formeln, ob als „Kunstwerk“ im Rahmen oder zur Bearbeitung und zum Spielen auf dem Bildschirm. Die bekannte Darstellung der „Mandelbrot-Menge“ läßt sich allerliebst kolorieren, die Grafik einer „Julia-Menge“ um alle Achsen drehen. Was der MathematikerIn auch wissenschaftlich dient, erscheint in der Ausstellung als ästhetisches Phänomen, aber solches ist seit Leonardo da Vinci (der hier auch vertreten ist) kein Widerspruch.

Gisela Gründl, die als abgeordnete Lehrerin (Mathematik und Physik) in der Uni am Institut für dynamische Systeme arbeitet, vertritt u.a. den didaktischen Aspekt der Schau. Sie hat die OberstufenschülerInnen eingeladen, sich die Ausstellung klassenweise anzusehen, um einmal die Mathematik als Faszinosum zu erleben. 27 Klassen haben sich bereits angesagt. Im Beiprogramm kann sie eine ganze Reihe von Lehrfilmen anbieten (über Katastrophentheorie, Einstein, sphärische Umstülpungen etc.).

Ob der Wunsch nach Anschaulichkeit nicht letztlich eher hinderlich ist, die reine Mathematik zu betreiben, sei dahingestellt: eine gute Werbung fürs Fach ist die Schau auf jeden Fall. Bus

Untere Rathaushalle, bis zum 22. September