San Gennaro und das Blutwunder von Neapel

Spekulationen über ein wunderbares Ereignis und einen kirchlichen Selbstläufer  ■ Von Felicitas Hoppe

„(...) Wo fände sich in Europa ein Gegenstand wie Neapel, das allstündlich den Reisenden so gut wie den Einheimischen zu Zeugen macht, wie uralter Aberglaube und allerneuester Schwindel sich zu zweckmäßigen Prozeduren vereinen, deren Nutznießer oder Opfer er ist (...) Wenn der Tag gekommen ist und die Menge Stunde um Stunde unter innigen Gebeten im Dom und im Vorhof des Wunders harrend auf den Knien liegt, dann haben die unter den Neapolitanern, deren Stammbaum auf die Familie des Heiligen zurückführt, das Recht, seiner säumigen Neigung für den Schutzbefohlenen mit lautem Schimpfen, herrischen Flüchen so lange nachzuhelfen, bis ein winkendes Taschentuch vom Altar her verkündet, das Wunder sei eingetreten, das Blut flüssig geworden. (...)“

Walter Benjamin, um 1928

„Ein Wunder ist ein Ereignis in Raum und Zeit, das menschlicher Erfahrung und den Gesetzen von Natur und Geschichte widerspricht.“

lexikalische Auskunft

Die Wege des Herrn sind keineswegs unergründlich. Er hat die Seinen mit Zeichen und Wundern überhäuft, hat ihnen Kohorten von Heiligen gesandt und diesen begnadeten Ausleger an die Seite gestellt, die um Erklärungen nicht verlegen sind. Der Glaube versetzt nicht nur Berge, er verwandelt auch unansehnliche trockene Blutklümpchen in frisches, flüssiges und rotschäumendes Blut. Es gibt sogar feste Termine, die von einigen Wunderwirkenden mit erstaunlicher Präzision eingehalten werden. Wer also ein echtes Wunder sehen möchte und bereit ist, sich zu diesem Zweck nach Neapel zu begeben, hat drei Termine, schön über das Jahr verteilt, zur Auswahl: den ersten Maisonnabend, den 19. September und, mit ein bißchen Glück, auch den 16. Dezember.

Als man vor 1685 Jahren Gennaro, den Bischof von Benevento (in der Nähe von Neapel) den wilden Tieren im Amphitheater zum Fraße vorwarf, verschmähten diese sein heiliges Fleisch, und Kaiser Diokletian sah sich gezwungen, ihn gemeinsam mit einem Grüppchen Unverbesserlicher enthaupten zu lassen. So geschehen bei Solfatara im Jahre 305. Reliquienjäger waren, wie immer, zur Stelle, und fingen das Blut, das der Bischof verspritzte, auf. Dann verschwanden sie und mit ihnen das Blut.

Über tausend Jahre später, ein Zeitraum, der in göttlicher Zeitrechnung kaum ins Gewicht fallen kann, begann sich das vermeintliche Blut des Märtyrers, dessen Überreste man inzwischen mitsamt der Blutreliquie in einer Seitenkapelle des Doms von Neapel beigesetzt hatte, auf einmal wieder zu rühren. Die winzigen trockenen Blutkrumen in den beiden Ampullen begannen auf einmal zu kochen, zu brodeln und zu schäumen, kurz: Das Blut des Heiligen verflüssigte sich und wurde zu Frischblut. Kein Zweifel, ein Wunder war geschehen, was die Neapolitaner nicht verwunderte, denn es war der 19. September, der Todestag des Heiligen. San Gennaro, Patron der Stadt Neapel, hatte seinem Volk ein Zeichen gegeben. Er war unter ihnen, und er war lebendiger denn je. Von nun an begann er, seine Wundertätigkeit in schöner Regelmäßigkeit fortzusetzen.

An einem 19. September, so wird behauptet, sei es in Neapel unmöglich, einen Parkplatz zu finden. Das ist so sehr Wahrheit wie Klischee, denn in Neapel gibt es keine Parkplätze. Selbstverständlich ist an den Wundertagen die Innenstadt verstopft, weil der Verflüssigung des Blutes eine große, streng ritualisierte Prozession vorausgeht. Unter lauten Gebeten und Gesängen wird die schwere Silberbüste Gennaros, in deren Kopf die Schädelknochen des Heiligen aufbewahrt werden, durch die Straßen Neapels getragen. Vorneweg die reichlich goldverzierte gläserne Monstranz, in der sich die beiden Blutampullen des Heiligen befinden, von denen die eine circa sechzig Kubikzentimeter faßt, während die andere wesentlich kleiner ist. Diese Ampullen werden bereits eine Woche vor dem Ereignis zu bestimmten Stunden den Gläubigen vorgeführt, so daß sich jeder von dem Festzustand ihres Inhalts überzeugen kann. Das Prozessionsschauspiel ist bunt und scheint nur verwirrend, in Wirklichkeit ist alles präzise organisiert, denn die Wundertätigkeit des Heiligen wird nicht nur von Kirchenvertretern, sondern auch von Stadtoberen ordnungsgemäß überwacht. Die Gebete und Gesänge sind zahlreich, der Heilige wird kräftig angespornt, sein Blut zu verflüssigen und der Stadt damit den dringend nötigen Gnadenbeweis nicht vorzuenthalten. Sollte er dies nämlich tun, sind die Folgen unter Umständen unabsehbar: Eine Nichtverflüssigung des Blutes ist sicheres, warnendes Zeichen eines drohenden Unglücks für die Stadt. So geschehen zum Beispiel im Jahre 1631, als das Blut sich nicht verflüssigte und drei Monate später der Vesuv ausbrach. Auf diese Art und Weise hatte sich auch der Beginn des Zweiten Weltkrieges angekündigt (was dem Heiligen in den Augen der Neapolitaner kurzzeitig einen quasi internationalen Rang verlieh); das bisher letzte Ausbleiben der wunderbaren Verflüssigung ist datiert auf das Jahr 1980, als in Neapel eines der bislang schwersten Erdbeben ausbrach, unter dessen Folgen die Stadt bis heute leidet.

Demzufolge ist die Spannung bei den Prozessionen groß. Der Zeitablauf wird dabei nicht von den Gläubigen, sondern vom Heiligen selbst diktiert, der manchmal ganze Tage mit der Verflüssigung auf sich warten läßt. Angelangt in der Kirche der heiligen Klara, werden die Ampullen vorne im Altarraum abgestellt. Der Raum ist düster und von Kerzen beleuchtet, die schrillen Gebete beginnen mit doppelter Kraft. Die Neapolitaner haben zu ihren Heiligen ein sehr direktes und forderndes Verhältnis, ihre Gebete gleichen eher Drohungen, dem Heiligen im Falle einer Nichtverflüssigung ihrerseits die Gunst zu entziehen. Denn Gennaro ist nicht nur zuständig für Kriegs-, Pest- und Vulkanausbrüche, sondern auch für die alltäglichen und ganz privaten Belange seiner Verehrerschar. Wie überall sind es auch in Neapel in erster Linie alte Frauen, die auf besonders vertrautem Fuß mit dem Heiligen stehen. Dies sind die sogenannten „parenti“ (zu Deutsch „die Verwandten“, die sich besonderer Verwandtschaftsbeziehungen mit dem Patron rühmen), die mit erstaunlicher Präzision die verschiedenen Ausformungen des Wunders auszulegen verstehen. Denn selbstverständlich läuft nicht immer alles nach demselben Schema ab; so verflüssigt sich manchmal nur ein Teil der vorhandenen Blutsubstanz, oder die Farbtöne der neu entstandenen Flüssigkeit variieren. Manchmal schäumt das Blut und wird sehr dünnflüssig, ein andermal gleicht es eher einer dunkelroten Suppe. Diese blutigen Befindlichkeiten gilt es nun zu lesen und zu interpretieren, das Blut spricht also, behaupten die „parenti“, durch seine Bewegung und seine Farbe. Jean- Noel Schifano, in Neapel lebender französischer Schriftsteller, beschreibt das so: „(...) Er [San Gennaro] ist der Rivale der ,Verwandten‘. Sie reizen und mißhandeln ihn. Wenn das Blut ,fest‘ ist und seine Verflüssigung auf sich warten läßt, beschimpfen sie ihn: ,Was ist los! Gelbgesicht, tust du's nun oder tust du's nicht!‘ Er soll bluten, wie sie geblutet haben (...)“ Dies hat in der Wundergeschichte nicht selten zu fulminanten Gefühlsausbrüchen im Altarraum geführt, zum Beispiel im Jahre 1987, als eine alte Neapolitanerin mit einer schweren Kerze schreiend auf die Ampullen losging. Das brachte ihr zwar ein Gerichtsverfahren ein, dem Heiligen aber war gründlich heimgeleuchtet worden.

Wesentlich folgenschwerer, aber ähnlich legendär war ein Vorfall im Jahre 1799. Die französischen Revolutionstruppen zogen in das königstreue Neapel ein, und Gennaro verweigerte, damit volkstreu einen Aufstand gegen die Besatzer ankündigend, sein Wunder. Der französische General jedoch, der die Lage offenbar richtig einschätzte, soll unter Anwendung von Waffengewalt die Kirchenoberen gezwungen haben, das Wunder doch noch zustande zu bringen. Unter vorgehaltener Pistole verflüssigte sich das Blut umgehend, die Ordnung war wiederhergestellt, der Heilige (mit kirchlichem Beistand) hatte die Besatzungsmacht bestätigt. Eine Tatsache, die angeblich einige Neapolitaner ihrem Patron bis heute nachtragen.

Was aber geschieht wirklich, wenn das Wunder geschieht? Generationen von Wissenschaftlern haben sich auf das Gennaro-Phänomen gestürzt, und bis heute läßt sich immer wieder irgendjemand zu Vermutungen über die „wahre“ Substanz in den Ampullen hinreißen. Es ist hinlänglich bekannt, daß einmal geronnenes Blut sich nicht mehr verflüssigen kann. Blut gerinnt außerhalb des Körpers innerhalb weniger Minuten. Es geht dabei aus dem flüssigen zunächst in einen gallertartigen Zustand über. Innerhalb einiger Stunden trennt sich durch Zusammenziehung der sogenannten Fibrinfäden diese Masse in den halbfesten sogenannten Blutkuchen und eine darüberstehende klare, hellgelbe Flüssigkeit, das sogenannte Serum. Nach der Koagulationsphase tritt die Reaktionsphase ein: Der Gerinnungsprozess ist damit abgeschlossen. Dieser Prozeß ist nach naturwissenschaftlichem Kenntnisstand irreversibel.

Einer Öffnung der Ampullen zum Zweck einer genauen Analyse der darin befindlichen Stoffe kann aber weder von kirchlicher noch von staatlicher Seite stattgegeben werden. Sie käme einer Zerstörung des Mythos und des Wunders selbst gleich. Daher bleibt die „wissenschaftliche“ Analyse in letzter Konsequenz unbefriedigend. Aber die Kirche selbst hat sich den Streit auf ihre Art zunutze gemacht, denn je weniger „naturgemäß“ das Wunder verläuft, je mehr naturwissenschaftliche Regeln also der Heilige verletzt, desto unverbrüchlicher die Gewißheit, daß es sich um nichts anderes als ein echtes Wunder handeln kann. Und wenn San Gennaro sich verflüssigt, setzt er mehr als nur ein naturwissenschaftliches Gesetz außer Kraft: Er schert sich nicht um die Einhaltung von Temperaturkonstanten beim Wechsel von einem Aggregatzustand in den anderen und kann in Volumen und Gewicht variieren. Solche und andere Regelverletzungen finden sich mit wunderbarer Akribie in sämtlichen von der Kirche herausgegebenen Gennaro-Broschüren aufgelistet, die folgerichtig in der euphorischen Feststellung münden, es handele sich bei dem Geschehen in den Ampullen mithin um eine Art neuen „Schöpfungsakt“.

Das Mißtrauen dem Wunder gegenüber hat eine so lange Geschichte wie das Wunder selbst. Ende des letzten Jahrhunderts behauptete Giacinto Albini von der Universität Neapel, die Substanz bestehe aus nichts anderem als aus einer alchimistisch raffinierten Mischung von Schokoladenpulver, Wasser, Zucker und Milch, eine Hypothese, die, obwohl nur eine unter unzähligen, nicht einer gewissen Logik entbehrt. 1902 wurde schließlich unter Zeugen eine sogenannte Spektralanalyse vorgenommen. Es handelt sich dabei um eine Untersuchung von Stoffen auf ihre chemischen Elemente durch Zerlegen des von ihnen ausgesandten Lichts in Spektralfarben. So kann man auf das Vorhandensein und die Konzentration der verschiedenen Elemente in der gegebenen Substanz schließen. Die Analyse verlief, was kirchliche Interessen betrifft, sehr positiv, denn man stieß auf eine dem Blut außerordentlich ähnliche Substanz. Dennoch verhält sich die Kirche in ihren offiziellen Aussagen über das Wunder äußerst zurückhaltend. Sie hat das Wunder selbst bisher niemals öffentlich als solches proklamiert und wird sich auch in Zukunft hüten, dies zu tun.

Vicenzo Vitagliano, Professor für Chemie und Physik an der Universität von Neapel, hält die Kirche ohnehin für eine „viel zu seriöse Institution, um sich solchen trügerischen Machenschaften zu widmen“. Er ist auch „absolut überzeugt, daß kein Betrug“ im Spiel sei, und hält die „Erscheinung“ für ein thixotropisches Phänomen. Unter Thixotropie versteht man die Eigenschaft einiger gelartiger, nicht fließfähiger Stoffe, unter dem Einfluß mechanischer Kräfte (durch Schütteln oder Mischen beispielsweise) vorübergehend flüssig zu werden. (Eine Methode übrigens, die sich die Industrie bei der Herstellung von Anstreichfarben zunutze gemacht hat.) Mit einiger Wahrscheinlichkeit kann man davon ausgehen, daß solche thixotropischen Substanzen auch im Blut vorhanden sind.

Wann immer es um die wunderbaren Ampullen geht, wird die Kirche sich beeilen zu behaupten, sie habe gegen die wissenschaftliche Recherche nichts einzuwenden, denn schließlich, so Luigi Petito, ehemaliger Dompfarrer von Neapel, „kommen Wissenschaft und Glaube beide von Gott.“ Auf die Frage, warum man dann die Ampullen nicht öffnen könne, erwidert er, man könne „Gott nicht herausfordern“. Die Kirche überläßt also das Feld den Gläubigen, die hier, jenseits von wissenschaftlicher Kleinkrämerei, weit bessere Arbeit leisten. Zu diesem Zweck wird ihnen die Reliquie regelmäßig zugänglich gemacht: eine Woche vor dem Wunder im Trockenzustand, eine Woche nach dem Wunder im Flüssigzustand. Jeder, ob gläubig oder nicht, kann sie sich dann vom Geistlichen vor seinen Augen hin- und herschwenken lassen, und wer sich Hilfe verhofft, küßt sie.

Schon immer haben die Süditaliener den Typus des Magiers dem des Samariters vorgezogen. Während man in Norditalien eher die karitativen Nothelfer um Beistand anruft, halten sich die Neapolitaner an symbolgeladene Zeichen und werden sich nicht scheuen, ihren Patron um die Durchsage gewinnträchtiger Lottozahlen zu bitten. Aber, so Clara Miccinelli, Journalistin und Historikerin, „der Reliquienkult ist schon immer von der Kirche erlaubt und unterstützt worden und hat dabei oft den Gipfel des Makabren und Grotesken erreicht. (...) Deshalb, ob nun Wunder oder nicht, würde ich behaupten, daß die Zeit, die inzwischen verflossen ist, allen die Hände gebunden hat. (...) Die Kirche würde ihre Popularität einbüßen“ (wollte sie das Wunder „verbieten“).

Was den Vatikan anbelangt, so ist man sich dort nicht einmal sicher, ob die historische Existenz Gennaros hinreichend belegt werden kann. Im Jahr 1964 führte das bei einer Revision des Liturgischen Kalenders zu einer empfindlichen Degradierung des Heiligen. Er wurde zu einem Heiligen „der Serie B“, was soviel bedeutet, daß seine Verehrung nur noch für Neapel, deren unbestrittener Hauptpatron er nach wie vor ist, obligatorisch ist. Über die Grenzen Neapels hinaus ist seine Verehrung hingegen nur noch „fakultativ“. Diese Entscheidung aus Rom war für die gläubigen Neapolitaner ein Schlag, hatte doch der Heilige bis dahin mit hundertprozentiger Sicherheit vermittels Nichtverflüssigung sämtliche Epidemien und Revolutionen vorausgesagt, mit 92prozentiger Sicherheit den nahenden Tod der Bischöfe, mit 88prozentiger Sicherheit kommende Kriege, mit 77prozentiger Sicherheit Überschwemmungen und mit 68prozentiger Sicherheit die Ausbrüche des Vesuvs. Drängt sich die Frage auf, wer eigentlich diejenigen sind, die mit solcher Präzision die erstaunlichen Erfolgslisten des Patron erstellen. Es sind mit Sicherheit nicht die Kirchenoberen, sondern jene kleinen dienstbaren Geister aus dem „Volk“ (der sogenannte Küstertypus), die das Blut Tag und Nacht bewachen, damit sich kein Fremder ungehindert Zugang verschaffen kann. Sie sind es auch, die sich in der Regel ganz besonders geheimnistuerisch geben, wenn es um genauere Auskünfte geht, sie mißtrauen den aufgeklärten Fremden, denen der „wahre Glaube“ fehlt. Wendet man sich aber an die Domgeistlichen, wird man nur ein mildes Lächeln ernten: „Ob ein Unglück geschieht, wenn sich das Blut heute nicht verflüssigt? Wie kann man das sagen, in dieser Stadt geschehen täglich so viele Unglücke, ob nun flüssig oder nicht...“

Das Wunder, so Clara Miccinelli, „besteht doch in der Tatsache, daß hier geglaubt wird, daß dieses Blut tatsächlich das Blut Gennaros sei, der vor über sechzehn Jahrhunderten gestorben ist. (...)“

Das Wunder Gennaros von Neapel ist in über sechshundert Jahren erfolgreicher Verflüssigung zu einem religiösen Selbstläufer geworden. Die Kirche verhält sich ambivalent, ohne dabei auf den Profit ihres wundertätigen Bischofs verzichten zu müssen. Es wäre aber falsch anzunehmen, die Bedeutung Gennaros hätte sich über die Jahrhunderte nicht gewandelt. Abgesehen davon, daß er von Heerscharen Konkurrenzheiliger umgeben ist, von denen er keineswegs der einzige ist, der bluten kann (aber der einzige, dessen Enthauptungsstein in Solfatara parallel zum Wunder mitblutet!), hat sich „seine Stadt“ Neapel in den letzten Jahrzehnten maßgeblich gewandelt. Denn aller aktiven Mythenbildung von innen wie von außen zum Trotz ist Neapel eine moderne Industriestadt wie andere süditalienische Städte auch, die — sehr zum Ärger ihrer mythen- und mysteriensüchtigen nordeuropäischen Nachbarn — mehr oder weniger für ihre Besucher bereithält als das immer noch von Millionen von Reiseführern heraufbeschworene „süße, verführerische Chaos“.

Aber eine solche Mythenbildung zieht sich hartnäckig nicht nur durch die Literatur jeden Genres der Vergangenheit, sondern auch der Gegenwart. Vor dem Hintergrund eines grotesk-makabren Katholizismus blüht nicht nur der vielbeschworene „Volksglaube“ (Aberglaube) jenseits sozialer und gesellschaftlicher Probleme weiter, die man mit Blut nicht beschwören kann. Wegen seiner faszinierenden Symbolträchtigkeit hatten schon immer auch die Künstler Gennaro für sich entdeckt. Im Schlepptau anderer großer Namen haben sich nicht nur Goethe und Nietzsche an dem neapolitanischen Bischof versucht. Letzterer ließ sich 1882 zu folgendem Januarius (=Gennaro) Motto hinreißen: „Der du mit dem Flammenspeere/ Meiner Seele Eis zerteilt,/ daß sie brausend nun zum Meere/ ihrer höchsten Hoffnungen eilt:/ heller stets und stets gesunder,/ frei im liebevollsten Muß:/ also preist sie deine Wunder,/ schönster Januarius!“

Und Jean Noel Schifano schließlich sieht in Gennaro den „Heiligen des Androgynen“ schlechthin: „(...) Alles ist Zeichen in Neapel: Was bedeutet also das Wunder von San Gennaro? Von seinem Geschlecht her Mann, wegen des in regelmäßigen Perioden fließenden Blutes Frau, bewundert ob seines wunderbar zweideutigen Zustandes (...) Am 19. September feiern die Neapolitaner den befreienden Verlust von sexueller Identität und leben fröhlich ihre Sehnsucht nach einer unterschiedslosen Welt aus. Ja, das Römische Reich hat Gennaro den Kopf abgeschnitten, die römisch-katholische Kirche hat ihn auf das Maß einer Büste zurechtgestutzt und ihm damit (...) das Geschlecht genommen. San Gennaro singt seine Kastration in roten, weiblichen, von der ganzen Stadt verherrlichten Sechsmonatsblutungen (...) Der unbegrenzte Wunsch, Mann und Frau in sich zu vereinen. Transsexualität (...)“.

Die Römer haben ihm also den Kopf genommen, die Kirche das Geschlecht; die neapolitanischen Fußballfans waren wesentlich bescheidener. Sie begnügten sich mit drei Fingern der rechten Hand einer Statue des Heiligen. Übrig blieben so Mittel- und Zeigefinger in Form des untrüglichen V=Victory. Das war am 10. Mai 1987, und es ging um den Meistertitel. Das Zeichen war deutlich: Die Neapolitaner errangen den Titel — das erste und bisher das einzige Mal.