Menschliche Gentherapie hat begonnen

Erstmals ist ein gentherapeutischer Eingriff an einem Kind vorgenommen worden, das an einer Immunschwächekrankheit leidet/ Auch amerikanische Kritiker befürworten den komplizierten Eingriff, fordern aber unabhängige Überwachungsgremien  ■ Aus Washington Silvia Sanides

Mit einer dreißigminütigen Blutinfusion begann am vergangenen Freitag ein neues Kapitel in der Geschichte der menschlichen Gentherapie. Der erste gentherapeutische Eingriff wurde an einem vierjährigen Mädchen, das unter einer schweren Immunschwächekrankheit leidet, am amerikanischen Bundesgesundheitsinstitut (NIH) vorgenommen. Wenige Stunden vorher hatten die Genehmigungsbehörden nach mehr als drei Jahren ihr endgültiges Jawort für den Versuch erteilt. Nur etwa vierzig Menschen weltweit erkranken an der genetisch bedingten Immunschwäche „ADA-Defizienz“. Den Patienten fehlt ein Enzym, die Adenosindesaminase (ADA), das für die normale Funktion des Immunsystems unentbehrlich ist. Bisher starb die Mehrheit der Betroffenen bereits in früher Kindheit an Infektionskrankheiten, gegen die ihr Körper nicht gewappnet ist. Berühmt wurde der Fall des texanischen „Bubbleboy“, der seine sieben Lebensjahre unter einer keimfrei gehaltenen Plastikglocke verbrachte.

Heute wird die Krankheit mit wöchentlichen Gaben einer künstlichen Form des Enzyms in Schach gehalten. Von der Gentherapie erhoffen sich die Mediziner langfristige Heilung. Für den Eingriff wurden weiße Blutzellen, die sogenannten T-Zellen, aus dem Blut der Patientin gewonnen und im Labor kultiviert. Nach zehn Tagen infizierten die Mediziner die kultivierten T-Zellen mit Viren, denen man das gesunde menschliche Gen für ADA eingepflanzt hatte. Die Viren wurden samt ADA-Gen in das Erbmaterial der T-Zellen aufgenommen. Etwa zehn Prozent der T-Zellen begannen noch im Reagenzglas, ADA zu synthetisieren. Am Freitag wurde etwa eine Milliarde der so behandelten T-Zellen in die Blutgefäße des Mädchens eingetropft. Der Eingriff soll einmal monatlich über sechs Monate wiederholt werden. Die Ärzte hoffen, daß sich die genmanipulierten T-Zellen stark genug vermehren und lange genug erhalten bleiben, um den Körper ausreichend mit ADA versorgen zu können, und die Behandlung zukünftig nur einmal jährlich vorgenommen werden muß.

French Anderson, einer der Mediziner, die das Verfahren entwickelt hatten, äußerte sich nach getaner Arbeit erleichtert: „Ich bin sehr zufrieden, weil es außerordentlich wichtig ist, daß das erste gentherapeutische Experiment gut beginnt.“ Er und seine Kollegen hatten den Versuch wiederholt umarbeiten müssen, weil Kritiker der modernen Gentechnologie und die Genehmigungsbehörden Mängel entdeckten. So besteht zum Beispiel die Möglichkeit, daß sich die eingeschleusten, genmanipulierten Zellen in Krebszellen verwandeln. Außerdem, so die Kritiker, könnte das Virus, das als Transportmittel für das ADA-Gen dient, sich unabhängig machen und andere Körperteile infizieren. Grundsätzlich aber haben die Kritiker gegen diesen speziellen Versuch nichts einzuwenden.

Für den Mitarbeiter des bekannten Gentechnologie-Kritikers Jeremy Rifkin „handelt es sich um eine schwere Krankheit, deren Behandlung für den Betroffenen nur von Vorteil sein kann“. Kritiker vermuten, daß die Gentherapeuten schon deshalb eine so schwere Krankheit für den ersten gentherapeutischen Eingriff wählten, weil sie das öffentliche Mißtrauen abbauen wollen. Sie fordern, daß die Entwicklung der modernen Gentechnologie nicht gänzlich den Wissenschaftlern überlassen bleibt. Dazu sei ihre Bedeutung zu weitreichend. Gentherapie am Menschen könnte zum Beispiel von Arbeitgebern und vom Versicherungswesen mißbraucht werden. Ein mögliches Zukunftsszenario: Ein Chemiekonzern ist bereit, einen Bewerber einzustellen, der jedoch auf eine der im Betrieb auftretenden Substanzen negativ reagiert. Die Anfälligkeit ist genetisch verankert. Anstatt den Arbeitsplatz zu säubern, verlangt der Arbeitgeber, daß sich der Job-Anwärter einem gentherapeutischen Eingriff unterzieht. Mit Überwachungsgremien, in denen neben Medizinern auch Sozialarbeiter, Gewerkschafter und Behindertenvertreter arbeiten, wollen die Kritiker potentiellem Mißbrauch dieser Art vorbeugen.