„Die verschenkte Chance“ der Entrüstung

Abrüstung in der DDR umfaßt weit mehr als die Beseitigung der NVA/ Auch die im Vergleich technologisch gut ausgerüsteten DDR-Militärbetriebe werden nach der Wende niederkonkurriert/ Ökologische Folgekosten durch militärische Übernutzung weiter Landstriche  ■ Von Thomas Worm

Berlin (taz) — „Abrüstung birgt eben Zündstoff.“ Petra Opitz vom Ostberliner Institut für Regionale Konversion wettert über „die verschenkte Chance“: die bislang einmalige Chance, eine ganze Gesellschaft — die DDR — samt und sonders zu demilitarisieren. Genug Betätigungsfelder gäbe es. Da sind zum einen all jene Betriebe, die technisches Know-how und Gewinne, Forschungsideen und Maschinenparks dazu nutzten, um Kriegsgerät zu produzieren, mit regional erheblichem Anteil am Sozialprodukt. Da sind zum anderen Hunderttausende Soldaten der Sowjetarmee sowie der NVA (bald der Bundeswehr), die großflächige Kasernengelände bevölkern und deren Truppenübungs- und Schießplätze eine verwüstete Landschaft hinterlassen. Ein Verbrauch natürlicher, menschlicher und materieller Ressourcen, dessen Umfang sich für Ost-Berlins Konversionsforscher nur schwer ermitteln läßt.

Im Gegensatz zu den USA oder der UdSSR hat es einen besonderen militärisch-industriellen Komplex im deutschen Arbeiter- und Bauernstaat nie gegeben, ebensowenig wie die Herstellung von Großwaffensystemen, etwa Flugzeugen. Bis auf das Kombinat Spezialtechnik Dresden mit seinen elf Teilbetrieben lag die Rüstungsproduktion in Händen von zivilen VEBs, die lediglich Einzelbereiche ihrer Fertigung darauf verwendeten, Kleinkalibergewehre zu montieren, Granaten zu füllen oder Panzer zu warten.

Diesen Betrieben droht mit der Abschaffung der DDR nicht nur das militärische „Standbein“ wegzubrechen, sondern durch die abrupt einsetzende Marktkonkurrenz auch das zivile. Die Radikalität läßt Übergangslösungen nicht zu. Schwer wiegen die „Altlasten“: die Verpflichtung, große Vorräte anzulegen, um jederzeit lieferbereit zu sein, die ad- hoc-Stornierung von bereits gebuchten Aufträgen seit Anfang des Jahres sowie die erdrückende Schuldenlast durch Inanspruchnahme von Krediten zur Zwischenfinanzierung. Das paralysiert die Betriebe. Die Kosten des Übergangsschocks beziffert das Institut für Regionale Konversion auf rund sechs Milliarden DM.

Das Rüstungserbe hat das Antlitz verschiedener DDR-Regionen auf seine Weise geprägt, etwa im Kreis Potsdam: Rund ein Drittel des Gebietes dient der Truppenstationierung von NVA und Roter Armee, Gefechtsübungen und Munitionsdepots. Im Potsdamer Raum verdienen sich über 4.000 Arbeiter ihren Lebensunterhalt in der Militärproduktion in insgesamt vier Betrieben, davon gehören drei zum ehemaligen Kombinat Spezialtechnik Dresden. 2.900 könnten schon am Ende des Jahres stempeln gehen. Sowohl die Luftfahrttechnik GmbH Ludwigsfelde (Flugzeugwartung), die Gerätebau GmbH Mittenwalde (Panzerabwehrraketen) wie die Gerätebau GmbH Brieselang (Sensortechnik und Meßgeräte) — siehe auch Betriebsreportage — suchen mit dem Rücken zur Wand nach alternativen Produktpaletten. Eigentlich stünden die Chancen der im Vergleich zu anderen DDR-Herstellern moderner ausgestatteten Betriebe nicht schlecht, verfügen sie doch über hochqualifizierte Ingenieure, Techniker und Wissenschaftler.

Mit einer entsprechenden Anschubfinanzierung über zwei Jahre, so der Vorschlag des Ostberliner Konversionsinstituts, wären die Rüstungslieferanten von gestern zum Beispiel prädestiniert, Umweltmeß-, Medizin-, Sensor- und Nachrichtentechnik zu produzieren; „Kristallisationskeime“ (Petra Opitz) für eine Fertigung auf hohem technologischem Niveau. „Wenn die Betriebe jetzt aber nach jedem Strohhalm greifen, jedes Angebot annehmen, Gelände verpachten, Werkstätten auslagern und simpelste Auftragsarbeiten übernehmen, dann werden sie in Kürze zerrissen sein und ihr Innovationspotential verlieren.“ Eine gezielte öffentliche Auftragsvergabe würde den Betrieben unter die Arme greifen, ohne auf Subventionen zu verfallen. Im Grunde eine Renaissance des Keynesianismus: Durch staatliche Auftragsvergabe soll die Nachfrage im strukturschwachen „Zonenrandgebiet bis zur Elbe“ angekurbelt werden. Zu den Aufwendungen der Konversion zählen auch die ökologischen Folgekosten: Bodenverdichtung in Manövergebieten oder die Kontamination von Flugplätzen. Allein die Vernichtung von 300.000 Tonnen NVA-Munition würde nach Schätzungen von DDR-General Norbert Wolf 1,5 Milliarden DM kosten. Bezeichnend für das „alte Denken“ unter Militärs und Ministerialbürokraten ist das Scheitern einer Initiative von NVA-Angehörigen aus Potsdam. Die Soldaten wollten zum Spaten greifen und ihre Übungsplätze selbst sanieren, verseuchte Böden abtragen und das Gelände rekultivieren. Man stelle sich Kohorten von Öko-Armisten vor, befehligt von Umweltoffizieren. Das Bundesfinanz- und Verteidigungsministerium sponsorte ein solches Projekt nicht. Für die sind Hauptmänner und Majore nun mal keine Ökologen.