Jochen Gauck über die Stasi-Akten: „Eher Auskunft als Akteneinsicht“

■ Der Vorsitzende des Volkskammer-Ausschusses zur Stasi-Auflösung ist als Sonderbeauftragter für das Stasi-Archiv im Gespräch. Er erläutert, wie mit den Akten verfahren werden soll INTERVIEW

taz: Sie waren bei den Verhandlungen mit Innenminister Schäuble über den zukünftigen Umgang mit den Stasi-Akten dabei. Wieweit sind die Forderungen der Volkskammer durchgesetzt?

Joachim Gauck: Das wichigste ist, daß die Notwendigkeit der politischen, der historischen und juristischen Aufarbeitung festgelegt wurde. Der vereinbarte Text sieht weiter vor, daß unser Gesetz zum Umgang mit den Stasi-Akten in der künftigen Rechtsgestaltung umfassend Berücksichtigung findet.

Strittig war, wo die Akten verbleiben, wer den Zugriff darauf hat und wer die Akten verwaltet.

Die Akten bleiben in der DDR. Es wird eine zentrale Verwahrung geben, so wie es auch ein zentrales Archiv gibt. In den Regionen wird es so geordnet werden, wie es möglichst sicher, effektiv und vielleicht auch kostengünstig zu handhaben ist. Die Verantwortlichkeit der Zentrale ist dabei stärker betont. Der Sonderbeauftragte wird hier seine Richtlinien durchsetzen können. Er wird in den Ländern die Zusammenarbeit mit Länderbeauftragten suchen, die dort bestellt werden. Er wird auch in den Ländern kompetente Mitarbeiter anstellen, die die Archivierung und die Nutzung der Akten gestalten.

Werden der künftige Sonderbeauftragte und die Länderbauftragten DDR-Bürger sein?

Die Länderbeauftragten werden Bürger der neuen Bundesländer sein und der Sonderbeauftragte ein Bürger der Noch-DDR. Wichtig ist dabei, daß der Sonderbeauftragte unabhängig ist und von niemandem Weisungen für seinen Aufgabenbereich empfängt. Er wird der Sonderbeauftragte der Bundesregierung sein und nicht etwa dem Innenministerium unterstehen. Er wird lediglich Rechtsaufsicht der Bundesregierung unterliegen.

Die BesetzerInnen in der Stasi-Zentrale fordern, daß DDR-Bürger Einsicht in ihre Akten nehmen können.

Wir haben hier zu einem Kompromiß gefunden, der weitgehend Material unseres Gesetzes einbringt — und dies nicht nur in Form eines Briefwechsels. Neben anderen, zusätzlichen Bestimmungen werden die Korrekturen zum Text des Vereinigungsvertrages über unser Thema Bestandteil eines zusätzlichen Pakets sein, das dann insgesamt beschlossen wird und den selben Stellenwert wie die anderen Vereinbarungen haben wird. Die Akteneinsicht, die das Volkskammergesetz vorsieht, wird in den Regelungen ausdrücklich erwähnt werden. Die konkrete Ausarbeitung fehlt noch. Ich möchte aber deutlich sagen, daß die Forderung, jeder kann seine Akte mit nach Hause nehmen, nicht erfüllt wird. Diese Forderung wird in dieser Form auch von keiner Partei oder Gruppierung gestützt. Eine Akteneinsicht wird möglich sein. Es ist weiter formuliert worden, daß der Sonderbeauftragte alsbald eine Benutzerordnung zu erlassen hat.

Akteneinsicht oder Auskunft?

Ich will ehrlicherweise sagen, daß es eher doch eine Auskunft ist. Das ist aber nicht ausdücklich festgeschrieben. Da gibt es noch Spielräume in der Benutzerordnung. Möglicherweise wird bei Bürgern, die ganz konkret Opfer der Staatssicherheit waren, auch Material in Form von Fotokopien ausgehändigt werden. Das kommt einer Akteneinsicht gleich. Dabei werden die schutzwürdigen Interessen Dritter zu berücksichtigen sein.

Wird im Nachtrag zum Einigungsvertrag das Rehabilitierungsgesetz der Volkskammer, eine Art Wiedergutmachung für die Stasi-Opfer festgeschrieben?

Ich habe nicht alle Verhandlungen mitbekommen. Nachdem, was ich gehört habe, werden aber die Erarbeiter des Rehabilitierungsgesetzes mit den Verhandlungen weniger zufrieden sein.

Mittlerweile gibt es nun Begehrlichkeiten beim Bundeskriminalamt und bei der Bundesanwaltschaft, die die operativen Vorgänge der Stasi für den Bereich des Terrorismus einsehen wollen. Gleichzeitig wird in der Bundesrepublik diskutiert, wie alte SED- und Stasi- Leute aus dem öffentlichen Dienst herausgehalten werden können. Dazu bedürfte es aber quasi einer Regelanfrage ans Stasi-Archiv...

Wichtig ist, daß alle Arbeit mit dem Material der Staatssicherheit niemals am Sonderbeauftragten vorbei geschehen kann. Es wird auch nicht ein Beauftragter, sondern eine ganze Behörde sein. Niemand denkt daran, die Verfolgung schwerer Straftaten zu verhindern. Für die Übergangszeit bei der Vereinigung ist nichts zu befürchten. Der Bundesinnenminister wird den Verfassungsschutz anweisen, bis zum Vorliegen klarer Regelungen überhaupt keine Anfragen zu stellen. Später wird möglicherweise — und nicht weil Bonn, sondern weil vielleicht auch unsere Bürger das wollen — angefragt werden. Die Benutzerordnung wird das regeln. Einzelfallprüfungen wären einer Regelanfrage vorzuziehen. Aber bei Einzelfallüberprüfungen bei einem so riesenhaften Potential wird es wohl Formen von Pauschalisierung geben. Etwa in dem Sinne, daß man die Herkunft der Leute aus dem Bereich der Statssicherheit genauer beschreibt. Die grobe Pauschalisierung „Mitarbeit bei der Stasi“ ist wenig hilfreich.

Gibt es eine analoge Regelung für die Akten über Bundesbürger bei der Stasi?

Wenn die Vereinbarungen eine Einsichtnahme vorsehen, wird das für alle Bürger zu gelten haben.

Wird der Sonderbeauftragte noch vor dem 3. Oktober von der Volkskammer gewählt werden?

Davon können Sie ausgehen.

Für diesen Job wird Ihr Name ins Spiel gebracht.

Mir liegt daran, erst über Inhalte und dann über Personen zu sprechen. Ich könnte mir vorstellen, daß ich das machen sollte, wenn die Regierung und das Parlament es so wollen.

Welche Zukunft hätten der parlamentarische Sonderausschuß zur Kontrolle der Stasi-Auflösung?

Es gibt Bestrebungen im Innenausschuß des Bundestages wie auch unter den Abgeordneten der Volkskammer, umgehend einen Untersuchungsausschuß zu bilden. Ich denke, die Arbeit wird in einem solchen Gremium fortgesetzt — und auch dort mit DDR-Dominanz. Wir werden auf gar keinen Fall auf die Mitarbeit derer, die mit unglaublicher Energie und mit viel Sachverstand beim staatlichen Auflösugskomitee oder in unserem Auschuß mitgearbeitet haben, verzichten.

Haben bei den Verhandlungen mit der Bundesregierung die Akten des Verfassungsschutzes oder des BND über DDR-Bürger eine Rolle gespielt?

Nein.

Interview: Wolfgang Gast