Beschwörung der Schleimhäute

■ Aleksander Vvedenskijs »Kuprijanov und Natascha« in der Schaubühne

Zuverlässiger als andere Glaubensgemeinschaften läßt sich die Zuschauergemeinde der Schaubühne an ihrem Geruch erkennen. Das Schaubühnenpublikum duftet. Erlesen und äußerst dezent. Wenn sich eine Schar junggebliebener Kulturträger zwischen fünfzehn und fünfundfünfzig, schwarz, weiß oder gedeckt gekleidet, vor dem Eingang der Kreuzberger Exklave der Schaubühne, der Probebühne in der Cuvrystraße, in kleinen Grüppchen zusammenfindet, um gedämpft parlierend, mitunter auch leise lachend, kurz aufglucksend oder laut lästernd auf Einlaß zu warten, legt ihr zarter Wohlgeruch sich erbarmungslos unaufdringlich über die doch viel kräftigeren, penetranteren Kiezgerüche. Der Stadtteil wird weggerückt, er wird zur Kulisse, zum Erlebnishintergrund, den die Zuschauenden sehr bald auswechseln, indem sie sich ins Innere des Theaters begeben.

Nahtlos und vollständig geht das Glucksen und Lachen des Publikums in eine ähnlich plätschernde und gedämpfte Geräuschkulisse über, die jedoch von vorn eingespielt wird. Eine Stimme setzt ein, langsam, jedes Wort plazierend. Sie spricht über eine Begegnung, ein Ereignis, das stattgefunden hat oder auch nicht: Denn zwei Erinnerungen stehen gegeneinander. Zwei eunuchenhafte Stimmchen treten hinzu und kommentieren im Chor den Monolog, der zum Gespräch wird. Eine Kerze wird angezündet.

An dem Tisch, auf dem sie flackert, sitzt Kuprijanov. Seine pompöse Krawatte hängt ihm schlaff herunter. Hinter ihm steigt ein Hügelchen auf, dann verliert sich der Raum in die alles verschlingende und doch bloß gemalte Tiefe. Irgendwo in ihr zeichnen sich Nataschas Umrisse ab. Links hinter dem Hügel steht eine eingerostete Maschine herum, und von rechts oben leuchtet wahrhaftig eine Marienerscheinung herab. Kuprijanov streckt einen Finger aus, nähert ihn allmählich der Flamme und stößt sie um, zuckt zurück: »Die Kerze brennt!«

Aleksander Vvedenskijs Stück Kuprijanov und Natascha, in den dreißiger Jahren geschrieben, soll die Sensation zeigen, die nicht stattfindet. »Der Geschlechtsakt oder etwas dergleichen ist ein Ereignis«, schreibt Vvedenskij, und nachdem Kuprijanov und Natascha zur Nacht »die schweinischen Gäste hinausbegleitet« haben, steuern sie dieses Ereignis Kleidungsstück um Kleidungsstück und Knittelvers um Knittelvers an.

Aber das Ereignis als solches gibt es gar nicht. Das Darauf-zu-Leben ist der Eintritt »in die Unendlichkeit«, aus der schleunigst wieder abhaut, wer sich einmal in sie verirrt. Im entscheidenden Augenblick mag Kuprijanov nicht mehr und zieht es vor, seinen Spaß an sich selbst zu haben. Und während er zusammenschrumpft, um endlich im Nichts zu verschrumpeln, erstarrt Natascha zur Lärche und gibt sich, eins mit der Natur, nun ihrerseits »dem einsamen Genuß hin«.

Jens Schmidl hat Vvedenskijs kleines Stück als eine Art postmoderne Oper zu inszenieren versucht und dazu fast die komplette Apparatur des psychoanalytisch-surrealistischen Jahrhundertspektakels im Taschenformat aufgefahren. Bedienen läßt er sie vorzugsweise durch die beiden Gestalten, die von Anfang an als begleitender Chor fungieren. Zwei Mönchskutten entstiegen, bringen sie es aufeinanderkletternd zu ungeahnten Erektionshöhen, wenn sich Kuprijanovs »fast schon toter Wurm« regt, sie lassen die (Junggesellen-)Maschine knarren, sobald er Hand an sich legt, und als Natascha sich dann selbst »die Stelle kitzelt«, spielen sie um ein blutrotes Zielkügelchen Ptanqué. Die Gottesmutter darf dafür Kuprijanov mit einer weißen Papiertaube vor dem Vollzug der Kopulation bewahren. Und am Ende des Stücks steigt sie von ihrer Höhe herab, und siehe, sie ist eine ... (wer errät's?).

Die Potenzierung gealterter Symbole geht einher mit einer konsequenten Verdoppelung, zuweilen Verdreifachung des gesprochenen Textes: Wo die Inszenierung von ihm abweicht, wird er verändert. Natürlich ist all das nicht ernst gemeint (das kann es unmöglich sein); es ist aber eben auch noch nichts anderes. Einerseits muß die Inszenierung die Sprache, die sie zitieren will, überhaupt erst in das Stück hineintragen. Andererseits liegt Vvedenskijs Leningrader Transrealismus zu dicht beim Surrealismus, als daß sich durch eine solche Übersetzungsoperation am Stück etwas Überraschendes zutage fördern ließe. Sie läßt es im Gegenteil durchsichtiger und belangloser erscheinen, als es sein könnte. Was verlorengeht, die ganze Dimension der Äußerlichkeit und Oberflächlichkeit, kann durch das unentschlossen parodierende Beschwören von inneren Schleimhäuten und Psychomechanismen nicht kompensiert werden.

Einige Albernheiten erlaubt die bis ins kleinste penibel festgelegte Inszenierungspartitur bloß kurz vor dem allseits vergeblich erwarteten Höhepunkt. Da bricht die Opernparodie einen Augenblick lang voll durch, der Kontrabaß wimmert, der eunuchenartige Chor jammert herzzerreißend, und eine wunderschöne Sekunde lang »lächelte das schwarze Zimmer/ Von ferne wie ein jäher Schimmer«. Aber gleich darauf versackt das alles wieder vor der hier völlig unangebrachten existentiellen Tragik der gescheiterten Kopulation, und Ulrich Wesselmann bringt es fertig, den kürzesten, prägnantesten und wichtigsten Monolog des Stücks (»Ich vergnüg' mich selbst./ So. Alles fertig./ Zieh dich an.«) völlig untergehen zu lassen.

Es gähnt der fast schon tote Wurm. Die Schaubühne gibt sich dem einsamen Genuß hin. Jeder streichelt bedeutungsvoll seine Katze. Anselm Bühling

Nächste Vorstellung am 22.9. in der Probebühne, Cuvrystraße, Berlin 36.