Wird Schwedens Atomausstieg gekippt?

Sozialdemokratischer Parteitag verabschiedet sich von dem für 1995 geplanten „Einstieg in den Ausstieg“/ Damit sind die Ergebnisse der Volksabstimmung von 1980 in Frage gestellt/ Anti-Atom-Bewegung befürchtet das Schlimmste  ■ Aus Stockholm Reinhard Wolff

Schwedens Sozialdemokraten haben den Beginn des Ausstiegs aus der Atomenergie auf den Sankt-Nimmerleinstag verschoben. Nach zweitägiger Diskussion faßte der derzeit laufende Parteitag der regierenden Arbeiterpartei in der Nacht zum Donnerstag den Beschluß, am ursprünglichen Startdatum 1995/96 nicht mehr festzuhalten. Wann die ersten Reaktoren abgeschaltet werden, steht nun in den Sternen.

In der verabschiedeten Vorlage heißt es unter anderem, daß der Ausstieg „so frühzeitig begonnen werden soll, daß er ohne ernsthafte Störungen in der Energieversorgung und Beschäftigungslage bis zum Jahr 2010 erfolgen kann“. Vor zwei Jahren hatte das schwedische Parlament auf Initiative der Sozialdemokraten beschlossen, die ersten beiden der insgesamt zwölf Atomreaktoren bereits 1995/96 abzuschalten. Das endgültige Ausstiegsjahr 2010 war vor zehn Jahren in einer Volksabstimmung festgelegt worden.

Schweden ist nach wie vor hinter Norwegen und Island das Land mit dem höchsten Pro-Kopf-Stromverbrauch der Welt. Auch bei den Steigerungsraten liegt man, trotz der hohen Ausgangsbasis, mit an der Spitze. Die industrielle Struktur des Landes mit den energiefressenden Zellulose- und Papierfabriken ist eine Erklärung. Eine andere: Das erstaunlich unterentwickelte Energiebewußtsein, kräftig gefördert durch einen rekordniedrigen Strompreis als Resultat des anders nicht absetzbaren Atomstromüberschusses.

„Die Regierung denkt in Wirklichkeit gar nicht daran, die AKWs fristgerecht abzuschalten. Die Energieministerin betrügt das Volk. Nicht einmal die zwei Reaktoren, die 1995 und 1996 stillgelegt werden sollten, werden die schaffen.“ Aino Blomqvist, Vorsitzende der „Volksbewegung gegen Kernkraft“, äußerte schon vor Jahren diesen Zweifel. Dabei hatte sie noch auf Birgitte Dahl als Energieministerin gesetzt, die von der Industrie als „Ausstiegsfanatikerin“ verschrien war. Sie wurde Anfang des Jahres durch den Gewerkschaftsboß und erklärten Atomfan Rune Molin ersetzt. Der Jubel der Atommafia war damals nicht zu knapp.

Carl-Erik Nyquist, Generaldirektor des staatlichen Energieriesen „Vattenfell“, blies zum Frontalangriff auf den Ausstieg: alle Prognosen ließen auf einen steigenden Energieverbrauch schließen. Billige Energie sei eine Voraussetzung für Lebensqualität. Hierzu stünde der Reichstagsbeschluß nach Ausstieg aus der Atomenergie in einem unlöslichen Widerspruch. „Diese Widersprüche lassen sich nicht vereinen, ebensowenig, wie man ein Energiesystem in so kurzer Zeit umstellen kann.“ Kein Wunder, daß die Energiewirtschaft nur noch symbolisch in alternative Energien investiert, im Staatshaushalt sind die entsprechenden Gelder in den vergangenen Jahren stetig geschrumpft.

Ein vom Industrieministerium bestelltes und Anfang März veröffentlichtes Gutachten malte, wie Blomqvist beklagt, ein „pflichtgemäßes Katastrophengemälde“ für den Fall des Ausstiegs. Schlechte Luft, tote Flüsse uund Zehntausende von Arbeitslosen seien die Folge, sollten wirklich AKWs stillgelegt werden. Von einer gigantischen volkswirtschaftlichen Verschwendung sprach wenige Tage vor Beginn des sozialdemokratischen Parteitages der Vorsitzende des Gewerkschaftsdachverbandes LO, Stig Malm. 60.000 Arbeitsplätze in der besonders energieintensiven Papier- und Stahlindustrie stünden auf dem Spiel. Metallgewerkschaftsführer Arne Angelöf machte klar, was die Gewerkschaften in dieser Lage von „ihrer“ sozialdemokratischen Regierung erwarteten: Sie müsse sich entscheiden zwischen umfassendem industriellen Kahlschlag mit Massenarbeitslosigkeit oder einer erhöhten Belastung und Zerstörung der Umwelt. „Diese Wahlsituation ist aber völlig unnötig. Mit einer Verschiebung des Ausstiegs ließen sich Umwelt- und Wohlfahrtsstaatsgesichtpunkte sehr wohl vereinbaren.“ Die Signale waren deutlich genug, sie wurden verstanden. Ministerpräsident Carlsson bei der Eröffnung des Parteitages: Es gelte nicht, sklavisch an irgendeinem Datum festzuhalten. Der Parteitag hat nun diese Linie abgesegnet.

Schlimmer noch: Sowohl parteiinterne KritikerInnen als auch die Anti-Atom-Bewegung bewerten den Beschluß als entscheidenden Schritt, auch das Ausstiegsdatum 2010 zu kippen. Der Weg sei jetzt frei für eine zufällig zusammengewürfelte Parlamentsmehrheit, in einigen Jahren mit einfachem Beschluß unter dem „Zwang der Fakten“ das Datum 2010 und damit die Ergenisse der Volksabstimmung von 1980 endgültig zu streichen, so die Anti-Atomkraft-Volksbewegung in einem ersten Kommentar. Die Bewegung stünde dann mal wieder am Anfang eines langen und schweren Kampfes — trotz „eigentlich“ klaren Volksvotums.