Gnade vor Recht — und vor Unrecht

■ Hans-Joachim Ehrig ist Vorsitzender der Vereinigung Berliner Strafverteidiger INTERVIEW

taz: Es gibt mittlerweile rund ein halbes Dutzend Amnestievorschläge. Vom jetzt gescheiterten Entwurf der Bundesregierung über den der Berliner Justizsenatorin Jutta Limbach, die Grünen, bis hin zur Vereinigung Berliner Strafverteidiger. Wo sind die Bruchstellen, und wie soll es zu einer einheitlichen Regelung kommen?

Ehrig: Ich freue mich erst einmal, daß es jetzt eine öffentliche Diskussion über die Frage einer weitergehenden Amnestie gibt. Von der Bundesregierung ist das bisher ja auf Stasi-Spione beschränkt worden. Schließlich wird sich das Parlament — wahrscheinlich das neue gesamtdeutsche — seine Meinung bilden müssen.

Amnestie wird von vielen Kritikern aber als willkürlicher Gnadenakt des Staates gewertet. So haben sich Blockierer von Waffendepots dagegen verwahrt, bei einer Amnestie im gleichen Atemzug mit früheren Mitarbeitern des Staatssicherheitsdienstes genannt zu werden.

Es wird ja nicht nur Gnade vor Recht, es wird auch Gnade vor Unrecht ergehen. Man muß sehen, daß die Strafurteile in der DDR in einem rechtsstaatlich defizitären Verfahren gefunden wurden. Es wurden Urteile mit unverhältnismäßigem Strafmaß gefällt. Umgekehrt wurden bei uns Dinge bestraft — wie etwa der Schwangerschaftsabbruch —, die im anderen Teil des künftig vereinten Deutschlands überhaupt nicht strafbar waren. Hier ist ein rechtsstaatliches Gefälle auszugleichen, das über den Einzelfall hinaus eine generelle Regelung verlangt. Man muß kein Sympathisant von DDR-Spionen sein, um zu sehen, daß eine Reihe von Straftaten durch das Blockdenken und den Kalten Krieg bedingt waren. Nach der Überwindung des Blockdenkens sind eine Neubewertung und ein genereller Straferlaß notwendig.

Sie fordern unter anderem eine Amnestie für Straftaten, die wegen politischer Meinungsbetätigung verhängt wurden. Wer hier einen Straferlaß fordert, müßte doch konsequenterweise eine Aufhebung der entsprechenden Paragraphen fordern.

Das ist sicherlich richtig. Wir fordern seit langem zum Beispiel die Aufhebung des Paragraphen 129a. Aber der erste mögliche Schritt ist die Aufhebung solcher Urteile. Es ist deutlich zu machen, daß es Verurteilungen wegen politischer Meinungsäußerungen nicht nur in der DDR, sondern auch in der Bundesrepublik gegeben hat.

Sie fordern weiter die Freilassung von lebenslang Verurteilten, die zehn Jahre Haft verbüßt haben. Das Echo in der Bevölkerung kann man sich gut vorstellen: RAF-Mörder auf freiem Fuß schießt weiter, Bankräuber wieder in Aktion. Soll jeder nach zehn Jahren freikommen?

Wir fordern diese Haftentlassung generell. Eine Einzelfallprüfung auf Rückfallgefahr sollte es nur bei Leuten geben, die in psychiatrischen Kliniken untergebracht oder in Sicherungsverwahrung sind. Dort sollte eine Kriminalprognose erstellt werden. Wir sind uns darüber im klaren, daß unser Vorschlag nicht unbedingt populär ist. Die Mörder sind aber unter uns. Sie waren es nach Ende des Zweiten Weltkrieges, und wenn man an die Schüsse an der Mauer denkt, sind sie es jetzt noch. Alle Studien belegen außerdem, daß jeder, der zehn Jahre in Haft war, ohnehin an der Grenze ist, als Persönlichkeit zerbrochen zu werden. Wir haben hier eine allgemein humanitäre Forderung aufgegriffen.

Das würde Aussöhnung des Staates mit dem Deutschen Herbst beinhalten. Auch die Gefangenen aus der RAF würden freikommen.

Soweit von lebenslänglichen Strafen zehn Jahre verbüßt sind, sollten sie unter die allgemeine Regelung fallen. Die Resozialisierung ausgestiegener RAF-Leute in der DDR belegt, daß hier durchaus die Chance für einen Neubeginn besteht.

Wenn eine Amnestie auch für Urteile in der DDR gelten soll, wie steht es dann mit den Ansprüchen auf Rehabilitierung?

Die generelle Halbierung der Strafen, wie wir sie fordern, darf individuelle Ansprüche auf Kassation und die Rehabilitierung schlimmer Unrechtsurteile nicht ausschließen. Das muß dann im Einzelfall geprüft werden. Interview: Wolfgang Gast