Der Schatz an der Silberspree

■ Die Senatsreserven als Relikt des Kalten Krieges werden ab 3. Oktober aufgelöst und verkauft/ Doch das kann bis zu fünf Jahre dauern/ Was gelagert wird, ist immer noch Staatsgeheimnis/ Die Warenberge sind rund zwei Milliarden Mark wert

West-Berlin. Schnell dreht der Lagerarbeiter das Schild weg, als die Kamera gezückt wird. Nein, sie ist immer noch Staatsgeheimnis, die Inschrift, die in einem riesigen, duftenden Getreidehaufen steckt. Früher galt sogar die Kategorie »streng vertraulich« für alles, was die Senatsreserven betrifft, inzwischen ist die Angelegenheit auf »geheim« heruntergestuft — kurios genug so kurz vor der deutsch-deutschen Vereinigung.

Acht Meter hoch liegen Weizen und Roggen in einer Halle am silbriggrau glitzernden Westhafen der Spree. Die Bediensteten der städtischen Behala — der Berliner Hafen- und Lagerhaus-Betriebe — haben geradezu gärtnerische Arbeiten zu erledigen, um den Berg zu pflegen und immer wieder die oberste Schicht mit einer Harke aufzulockern. Die Behala beherbergt den größten Teil der Senatsreserven. Die wurden nach der Berlinblockade im Jahre 1950 auf Anweisung der Westalliierten angelegt, um die Westberliner im erneuten Blockadefall runde fünf Monate mit Brot und anderen Lebensmitteln, mit Kohle, Benzin, Kleidung, Hygienemitteln und Medikamenten versorgen zu können.

Doch das Ende der Bevorratung ist abzusehen, wenn mit dem 3. Oktober die Oberhoheit über die Senatsvorräte von den Westalliierten auf die Bundesregierung überwechselt. Dann werden die an über 200 Stellen in West-Berlin gelagerten Warenberge — das Getreide, 13.000 Tonnen Konservengemüse, 1,6 Millionen Tonnen Kohle und eine halbe Million Tonnen Heizöl — verkauft.

Die Behala ist darüber nicht nur glücklich. Ihr Geschäftsführer Dr. Wattenberg, der aus seinem Büro im Verwaltungsgebäude auf die dunkle, ziegelsteinerne Industrieromantik der Hafenanlagen von 1923 blickt, nimmt im Schatten des Kornbergs Zuflucht bei der Bibel: Den sieben fetten Jahren würden immer die sieben mageren folgen. Denn bisher war die Bevorratung ein florierendes Millionengeschäft.

Die Lagerung und Umwälzung der Waren im stolzen Gesamtwert von zwei Milliarden Mark beschäftigt bei der Behala und anderen Lageristen immerhin 250 Menschen. Hinzu kommen weitere 90 Personen, die in der größten Abteilung im Hause des Wirtschaftssenators mit der kaufmännischen Abwicklung der Chose betraut sind. Wenn die Lager nun aufgelöst werden, muß sich die Behala neue Kunden suchen. Doch der Geschäftsführer gibt sich nicht geschlagen: »Bei Auslieferungslagern herrscht durchaus Bedarf. Warum nicht mal Teppichböden im Westhafen?«

»Sicherlich«, gibt er zu, »ein wenig antiquiert« sei das Ambiente hier schon. Dafür durchaus urig. Die alte Hafenschenke beispielsweise, noch vor dem Verwaltungsgebäude gelegen, mutet eher wie ein Lokal auf St.Pauli denn wie eine Berliner Bierschwemme an: Kreuz und quer sind Fischernetze gespannt, dazwischen Schiffsmodelle, Schiffslampen, Schiffsfähnchen ...

Weniger romantisch sind die Lagerhallen. Hier stapeln sich konservierte Pfirsichhälften, Apfelmusdosen oder auch Zuckersack auf Zuckersack. Nach vier bis fünf Jahren ist das süße Zeug austauschreif, weil braun geworden. Bemerkenswert ist das Herkunftsland des grobkörnigen Industriezuckers. Er wurde, genauso wie Kohle oder Benzin, in der DDR gekauft. Im Zweifelsfall also hätten die Westberliner sich mit realsozialistischen Grundstoffen gegen eine neue Hungerblockade der Realsozialisten gewappnet.

Apropos grobkörnig: Man glaubt es ja nicht, aber die Bundesregierung hat sich wahrhaftig um die Schonung des gewöhnlichen Westberliner Hinterteils verdient gemacht. Noch in den achtziger Jahren befand der Senat die Bevorratung von Klopapier für überflüssig, in Krisenzeiten könne man doch auch mit Zeitungspapier vorliebnehmen. Doch in Bonn bestand man drauf: Toilettenpapier muß sein. So zählen also, neben 17 Millionen Stück Seife, auch unzählige Rollen zur eisernen Reserve.

Andere Utensilien hingegen wurden bereits im Frühjahr 1989 ausgemustert: Fahrräder des Baujahrs 1960 beispielsweise oder Kinderwagen aus selbiger nostalgischer Epoche. Spätestens mit Anbruch des Jahres 1990 wurde überdeutlich, daß die Bevorratung als Relikt des Kalten Krieges ihren Sinn längst verloren hatte. Im Mai dieses Jahres erging mit der rot-grünen Mehrheit des Abgeordnetenhauses der Beschluß, der Senat sei aufgefordert, die Bundesregierung aufzufordern, sie möge die Alliierten auffordern ..., die nicht länger benötigten Vorräte an die DDR, die Sowjetunion und die Dritte Welt abzugeben.

Nach dem doppelsinnigen Motto: »Das ist unsere Kohle«, mochte das Bundesfinanzministerium dabei jedoch nicht mitmachen. Die DDR hat genügend eigene Lebensmittellager in Oranienburg, so erfuhr man in Berlin, die Sowjetunion bekommt eh einen Milliardenkredit und die Dritte Welt ... ist weit weg.

Und so wird denn, wenn Finanzminister Theo Waigel nach dem 3. Oktober auf allen Senatsvorräten sitzen wird, der Schatz endgültig verkauft. Und zwar, anders als bei früheren Umwälz- und Verkaufsaktionen, zu ganz normalen Marktpreisen. »Wir kriegen jetzt schon massenhaft Anfragen von Bürgern, ob sie vielleicht hundert Büchsen Apfelmus billig bei der Behala kriegen können«, berichtet Jürgen Dittberner, Staatssekretär in der Senatsverwaltung für Wirtschaft. »Aber das geht natürlich nicht, das sind ja Steuergelder.« Allein im Haushaltsjahr 90 koste die Bevorratung den Steuerzahler via Bundesmittel 100 Millionen Mark.

Und auch im nächsten Jahr sei das noch nicht zu Ende. »Im Durchschnitt drei Jahre und bei der Kohle bis zu fünf Jahre«, so schätzt er, werde die Auflösung der Vorräte dauern. Denn die Berliner Kohlekraftwerke hätten mit dem sogenannten Jahrhundertvertrag über die Verstromung der Ruhrkohle feste Abnahmeverpflichtungen und könnten jährlich nur einen Teil der gebunkerten Kohle verfeuern.

Zum Beispiel jene, die in einer früheren Kiesgrube am Kladower Damm verbuddelt wurde und jetzt irgendwann wieder herausgeholt werden muß. Erst vor zwei Jahren wurde die Grube mit einem Riesenaufwand hergerichtet. »Eine Art Schildbürgerstreich«, befindet Staatssekretär Dittberner. Ute Scheub