Der gesprayte Rummel

■ Strategien zur Befriedung mauerloser Berufssprayer auf dem Berliner Oktoberfest

Klassische Großamüsements wie Volksfeste haben es schwer, scheinen, aus den Tiefen öffentlich zugänglicher Feier- und Amüsierkultur kommend, seltsam überlebt und fossilgleich ein dennoch zähes Leben zu führen in der Mitte elektronischer Funk- und Fernsehsignale. Die gewitzteren dieser Unternehmen spielen mit der ihnen eigenen Nostalgie — etwa der Zirkus Roncalli mit seiner leicht angeschimmelten La-Strada-Atmosphäre. Andere aber versuchen sich zu modernisieren, aktuelle, auf der Höhe der Zeit sich befindende kulturelle Elemente in die Achterbahnfahrerei und das Essen von tiefgekühlten Fischbrötchen einzubauen.

Beispielsweise das Sechstagerennen. Seit langem schon ab vom Schuß, von den goldenen Jahren in den Fünfzigern zehrend, wurde das Rennen nur noch von den hartnäckigsten unter den Anhängern des Sportpalastwalzers frequentiert. Also hatte man die Idee, topaktuelle, jugendlich-frische Tupfer in das Programm zu schieben — Nina Hagen gab den Startschuß zur Kurverei, und auch sonst wurde die eine Marschmusik durch den anderen Rock ersetzt. Doch gedankt wurde es nicht — den Alten war es zu jung, den Jungen ging die Erinnerung an das Alte nicht aus dem Kopf: Pleite auf der ganzen Linie.

Auch das Berliner Oktoberfest traut den traditionellen Einrichtungen nicht mehr. Obschon Kettenkarussells immer schneller, Kino 2000 immer überwältigender und das Speiseangebot immer internationaler wurde: über seine Ausgangsbedingungen, die immer innerhalb der Erdanziehungskraft lagen, konnte es nie hinaus und ist der großen und kleinen Simulationsmaschine allein deshalb unterlegen. Das Prinzip: »Immer weiter, schneller, höher«, kommt irgendwann an den Punkt der Erstarrung: Das angekündigte Neue wird zum spiralförmigen Rotieren um die immergleichen Ausgangsbedingungen. »There is no way out of it«, scheppert es beim Autoscooter, und das Berliner Oktoberfest suchte nach einer Frischzellenzufuhr.

Die Frischzelle heißt »Graffiti art«. Auf vier »Kunstinseln« verteilt, sollen Graffitikünstler »zum Anfassen« die Volksfestzeit über Kunstwerke herstellen und auf dem Oktoberfestgelände eine »Open-air-Galerie« etablieren. Das Unternehmen ist als Wettbewerb angelegt: »renommierte Berliner und internationale Künstler« wurden geworben, Arbeitsmaterialien (FCKW-freie Sprühdosen natürlich) gestellt, und jeder bekam hundert Mark Startgeld auf die Kralle. Am Ende der Volksfestsaison wird eine Jury die besten der Kunstwerke ausloben, Preise (2.000, 1.000 und 500 Mark) verteilen, eine Ausstellung organisieren, die im nächsten Jahr die neue Volksfestsaison einläuten soll — schließlich ging der Wille zur Kunst nur bis zum Thema des Wettbewerbs: »Berliner Rummel« soll gesprayt werden.

Die Basis der Kunstinseln ist sattgrüner Plastikrasen, auf dem drei geweißte Stellwände sternförmig angeordnet sind, so daß es sechs große Flächen zum Bemalen gibt. Sie wirken ein wenig deplaziert, so zwischen Losbude und Currywurst stehend, zusammenhanglos im gewohnten Getriebe des Amüsierens. Daher der Name: Inseln. Daß die Graffiti Kunst werden, ist durch die Auswahl der Teilnehmer gesichert. Lange Lebensläufe durch Galerien hindurch liest man auf dem Informationsblatt, und die Schirmherrschaft von Frau Dr. Anke Martiny, Senatorin für kulturelle Angelegenheit, gibt das administrative Gütesiegel »Kulturelles Biotop«. Denn vorgestellt werden nicht die unbekannten Sprayer, die U-Bahn-Waggons verschönern, ihren Namenszug an den Mauern hinterlassen, mit dem Edding Plastiksitzen einen neuen Sinn geben; einige der Künstler mögen das vielleicht irgendwann gemacht haben — »oh ja«, sagt die Pressefrau, und ihre Augen glänzen dabei, »es sind auch echte illegale Sprayer dabei, und der junge Mann neben Ihnen, der hatte einen Freund, der war U-Bahn-Surfer und ist dabei zu Tode gekommen« —, aber es ist das doch ein recht durchscheinender Trick, vom Graffito mit der Aura des Wilden, Nächtlichen, Anarchischen noch ein wenig auf den Festplatz neben der Eissporthalle zu retten, auf die Insel zu bringen: der einsamen Künstler zum Anfassen, die Auferstehung des illegalen Sprayers auf Plastikrasen für den Besucher, der ihn nur von Häuserwänden her kennt oder der Berliner Mauer.

Man hört hier schon die gesellschaftswissenschaftlich orientierte Nachtigall trapsen: Ist das nicht schon wieder so ein Fall, wo eine Kunstform, die sich »gründet im sozialen Milieu als eine Form der Rebellion und des Ausagierens sozialer und psychischer Spannungen« (Presseheft, Artikel von M. Nungesser), von der Kulturindustrie aufgegriffen wird, vermarktet und dann ihren ursprünglichen Trägern enteignet.

In der Tat, so ist es, und nicht erst seit heute. Schon lange ist man dabei, die in den Ghettos New Yorks entstandene Kunst hineinzuholen in den Kunstmarkt — was durchaus logisch ist. Allerdings nimmt dieser Markt nur die ansprechenden Künstler auf, die kreative Elite. Als die Mauer noch stand, hatten ZDF-Redakteure die famose Idee, zu Anfang einer ihrer Sendung ihren Namen auf die Mauer zu sprayen. Als das getan war, kam ein ernster Mann ins Bild, sicherlich ein Moderator von hohem Sachverstand, benannte die Tradition des Graffitos, klassifizierte und ordnete ihn ein, stellte ihn in den großen Zusammenhang abendländischer Kultur und promovierte sie so in das große Lexikon der Malerei.

Doch das ist nur die eine Linie — während Graffiti als Kunst in die Museen gestellt werden, werden Graffiti als wilde Kunst an den Hausmauern und U-Bahn-Linien strafrechtlich verfolgt.

Dabei war Berlin bis zum Fall der Mauer ein Graffitiparadies. Seitdem dieser Malgrund aber fehlt, müssen alle Sprayer notgedrungen auf die verbotenen Wände zurückgreifen und werden vom touristischen Hit zu einem strafrechtlichen Problem. Allein mit dem Ausloben von Kopfprämien würde man dem zu erwartenden Ansturm von Sprayern nicht Herr werden, ahnten die Verantwortlichen. Andere Befriedungsmaßnahmen mußten her. Der Sozialstaat war gefragt, das Bereitstellen von Flächen sein Problem. Und wo der Sozialstaat ein Problem hat, kommt die Eigeninitiative ins Spiel, der Motor der freien Marktwirtschaft.

So sieht man das auch bei den Ausrichtern des Oktoberfestes: »Jetzt, wo die Mauer gefallen ist, ist doch ein großer Bedarf an Möglichkeiten zum künstlerischen Ausdruck«, den man den Künstlern hier nun auch biete, und »das wird von den Künstlern auch angenommen«. Die Stellwände haben auch den leichten Hauch von Mauer, auf der Mauerkrone sitzt allerdings nicht runder Beton, sondern eine Werbetafel vom Obi-Heimwerkermarkt. Und auch Anke Martiny wird den großen Zusammenhang erkannt haben: Denn hier die Schirmherrschaft über Graffiti art übernehmen und dort mitteilen, daß kreative Tätigkeit anderen nicht aufgezwungen werden darf (wobei die anderen die Hauswandbesitzer sind, die allerdings ihre Wandgestaltung anderen aufzwingen dürfen — siehe dazu die Dokumentation), das stinkt geradezu nach einer klassisch sozialdemokratischen Problemlösung. Mehr Demokratie wagen und Berufsverbote, Graffiti art und Kriminalisierung wilder Graffiti — damit ist sie zur Willy Brandt unter den Kulturpolitikerinnen aufgestiegen: Sprüht zusammen, was ins Museum gehört.

Volker Heise