Zeichen pflastern ihren Weg

■ Eine Agentur zur allgemeinen Verbesserung kämpft für Sprayer

Um's gleich klar zu sagen: Auch die wollen nur Ihr/Euer/Dein Geld. Und zwar für einen Fonds, aus dem die jährliche Verleihung des »Wilhelm-Lehmann- Wanderordens« (in drei Klassen und zum Gesamtpreis von etwa 10.000 DM) zu finanzieren wäre. Mit diesem sollen nämlich die nach Meinung einer aus einer Arbeitsgemeinschaft an der Kreuzberger Heinrich- Zille-Grundschule hervorgegangenen Jury entweder sprachlich, kontextuell oder ästhetisch besten drei Graffiti in der Stadt prämiert werden.

Denn — so poltert die in dieser Angelegenheit initiativ gewordene Agentur Bismarc-Media, die sich »mit Hingabe, wenn auch nicht immer erfolgreich, der allgemeinen Verbesserung widmet«, in einem Schreiben »an 17 Berliner Zeitungen bzw. Radiosender« zur Unterstützung des Unbekannten Sprayers — gerade jetzt täte die Einrichtung eines »Wilhelm-Lehmann-Wanderordens« mehr als not. Seit dem 9. November hätten sich zwar die Graffiti in der Stadt enorm vermehrt, gleichzeitig seien sie aber auch durch Abriß der Mauer dezentriert worden, weshalb sich verschiedene Behörden und Institutionen entschlossen haben, dagegen vorzugehen.

Um ihre Initative quasi auch historisch-analytisch-chronologisch zu untermauern, weißt Bismarc-Media darauf hin, daß gleich nach der Maueröffnung — die glückstrunkenen Berliner seien noch ziellos auf dem Kurfürstendamm hin- und hergelaufen — die Invasion der Zeichen begonnen habe: »Go West«, »Come Together«, »Offen für kleine Experimente« etc. Sogar an den Wänden der Grenzkontrollstellen hätten die Firmen ihre »Botschaften« anbringen dürfen, »Pepsi« und »Camel« gar, so betont Bismarc-Media, in bisher nicht gekannten Supergrößen. Tausende von Handwerkern hätten in den Wochen danach die entsprechende Lichtreklame an den einstigen VEB-Läden angebracht, wobei im Bezirk Prenzlauer Berg die meisten allerdings wieder zerstört worden seien. Die Medienkonzeren aus dem Westen hätten Plakate und Aufkleber in Millionenauflage gedruckt, und oftmals seien die Hinweise schneller angekommen als die Waren selbst. Dann seien die Sticker für die Trabanten gekommen. Manche Fahrer hätten, so ermittelte Bismarc-Media, die gesamte Rückscheibe damit dichtkleben lassen. Kurz darauf seien die Taxis, Busse und Straßenbahnen sowie die U-Bahnhöfe, so wörtlich, »vollgeklatscht« worden. Einige Wochen vor dem 18. März hätten dann die PR-Teams der Parteien losgelegt und nicht einmal die Werbebannmeile Unter den Linden verschont, was anschließend die sogenannten »wilden Klebekolonnen« im Auftrag von Copy-Shops, Jugendklubs, Musikveranstaltern und Gebrauchtwagenhändlern ausgenutzt hätten.

Und nun wolle die Großberliner Stadtverwaltung zusammen mit den Verkehrsbetrieben massiv gegen die Zeichenflut vorgehen! Aber nicht etwa gegen die großflächigen »Schmierereien«, wie Bismarc-Media formulierte, von Mercedes, McDonald's, Philip Morris und 'Petra‘, deren Werbekräfte mittlerweile ganze Todesstreifenabschnitte angemietet hätten, sondern gegen die kleinen handgesprühten Unikatembleme und -sprüche der sogenannten Kids. Zumindest im Westteil der Stadt hätten diese bis zur »Wende« mit der Mauer die größte Graffitiwand der Welt besessen. Bisweilen sei sogar auf Senatskosten der eine oder ander beühmte Graffittikünstler aus New York eingeladen worden, um sich auf einem extra für ihn frisch geweißten Mauerstück selbst zu verwirklichen.

Aber nun, so prognostiziert Bismarc-Media weiter, sollen ausschließlich kommerzielle Werbebotschaften im Weichbild der Stadt, insbesondere im Verkehrsnetz, erlaubt sein. Schon würden Sondertruppen zum Verhaften von Graffitikünstlern eingesetzt und vielversprechende neue Reinigungsmittel zum Entfernen von Sprühlack auf Wänden pressekonferenzmäßig vorgestellt.

All diese grellen Signaturen und schnellen, mitunter genial geratenen Kürzel bzw. Sprüche, die von den Kids in »teilweise anteuerlichen Situationen« an markante Mauern und Flächen gesprüht würden, sollen, wie Bismarc-Media herausgefunden hat, »verschwinden«. Nur noch die standardisierten — in allen Städten und Kontinenten gleichen — Werbebotschaften großer Firmen und Konzerne dürften von den Passanten zur Kenntnis genommen werden. Und wo bliebe, so wird gefragt, das »Soziale« an der Marktwirtschaft — wenn beispielsweise zweimal 200 Meter U-Bahnhof Heinrich-Heine- Straße mit Plakaten vollgeklebt würden (»Bild kämpft für Sie« / »Die Frauen von heute ...«), aber ein zehn mal sechzig Zentimeter großer Spruch am Zugabfertigerhäuschen — »Alles Fotzen außer Mutti« — sofort enfernt würde?

Erlaubt seien selbst sich drehende und nachts hell erleuchtete Riesensterne — am Ende der Avus, am Landwehrkanal, auf dem Europa- Center und bald am Potsdamer Platz (bis zu zehn Meter im Durchmesser), aber wer an eine der Yorckbrücken mit 40 Zentimeter großen Buchstaben schriebe: »Keine Rinderzucht auf Regenwaldböden«, mache sich strafbar oder würde gar »in die Klapsmühle eingeliefert« wie der berüchtigte Sendermann, der mit großen weißen Buchstaben überall hingeschrieben hätte: »Der Senat foltert mit getexteten Reden.« Dies bezeichnete Bismarc-Media als »verkehrte Welt«. Nicht nur, weil die ganzen Neonfirmenlogos und »uns zum großen Teil für dumm verkaufenden« Werbesprüche in rein kommerzieller Absicht von hochbezahlten Textern, Graphikern und sogenannten Art-directors entworfen würden, die — wie x Untersuchungen bestätigten — zu der »moralisch verkommensten Klasse der Kreativen« gehörten, während die »vollkommen idealistisch handelnden jugendlichen Sprayer« ihre Einschreibeflächen oftmals sogar eigenhändig grundieren müßten und die Farbdosen von ihrem Taschengeld kauften.

Wie Bismarc-Media interstädtisch ermittelte, habe der CDU-Bürgermeister der oberhessischen Metropole Gelnhausen unlängst für die Ergreifung eines Sprayers 10.000 Mark Belohnung ausgesetzt, für einen heimtückischen Frauenmörder 3.000. Auch die Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) hätten jetzt eine Fangprämie gegen die sprühenden »Vandalen« ausgesetzt: in Höhe von 300 bis 5.000 Mark. Bismarc-Media ist hingegen der Meinung, jeder Mensch müsse das Recht haben, seine Wege mit seinen Zeichen zu markieren. »Freie Zeichen für freie Menschen — quasi!«

Geradezu vorbildlich mute ihnen in diesem Zusammenhang die Aufstellung einer Gedenkstele in Kreuzberg an — ein Bronzerelief auf einem Sandstein mit der Inschrift: »Wilhelm Lehmann — 1869-1943 — schrieb hier am Mariannenplatz Parolen gegen Hitler und den Krieg an die Innenwand eines Toilettenhäuschens. Er wurde denunziert und von den Nationalsozialisten ermordet.«

Die Parole Wilhelm Lehmanns habe »Hitler, Du Massenmörder mußt ermordet werden, dann ist der Krieg zu Ende« geheißen. Die Gedenkstele ginge auf die Initiative der 3. Klasse der Heinrich-Zille-Grundschule und ihres Lehrers Klaus Emrich zurück. Zuerst sei es eine Papptafel gewesen, die dann — finanziert vom Volksbildungsstadtrat — durch die Arbeit des Bildhauers Nikolaus Langhans ersetzt worden sei. Während der Enthüllungsfeier, Ende Juni, hätten die Schüler erzählt, was sie über den Ermordeten herausgefunden hatten. Es sei nicht sehr viel gewesen, aber mittlerweile habe sich die Tochter Wilhelm Lehmanns aus Magdeburg gemeldet.

In diesem Zusammenhang stellte sich Bismarc-Media die Frage: »Wie kann man heute ein nichtfaschistisches Leben führen, und was sind seine Parolen?« So hätte Michel Foucault einmal zur amerikanischen Ausgabe eines Buches ein Vorwort geschrieben mit dem Titel: Einführung in das nichtfaschistische Leben. Nach Art eines »Handbuchs für das Alltagsleben« habe er darin »eine bestimmte Anzahl wesentlicher Prinzipien« zusammengestellt. Auf diese verwies Bismarc-Media:

—Befreie die politische Aktion von jeder vereinheitlichenden und totalisierenden Paranoia!

—Entfalte Aktion, Denken und Wünsche durch Proliferation, Juxtaposition und Disjunktion — und nicht durch Unterteilung und pyramidische Hierarchisierung!

—Verweigere den alten Kategorien des Negativen (Gesetz, Grenze, Kastration, Mangel, Lücke), die das westliche Denken so lange als eine Form der Macht und einen Zugang zur Realität geheiligt hat, jede Gefolgschaft! Gib dem den Vorzug, was positiv ist und multipel, der Differenz vor der Uniformität, den Strömen vor den Einheiten, den mobilen Anordnungen vor den Systemen! Glaube daran, daß das Produktive nicht seßhaft ist, sondern nomadisch!

—Denke nicht, daß man traurig sein muß, um militant sein zu können — auch dann nicht, wenn das, wogegen man kämpft, abscheulich ist! Es ist die Konnexion des Wunsches mit der Realität (und nicht sein Rückzug in Repräsentationsformen), die revolutionäre Kraft hat.

—Gebrauche das Denken nicht, um eine politische Praxis auf Wahrheit zu gründen — und ebensowenig die politische Aktion, um eine Denklinie als bloße Spekulation zu diskreditieren! Gebrauche die politische Praxis als Intensifikator des Denkens und die Analyse als Multiplikator der Formen und Bereiche der Intervention der politischen Aktion!

—Verlange von der Politik nicht die Wiederherstellung der »Rechte« des Individuums, so wie die Philosophie sie definiert hat! Das Individuum ist das Produkt der Macht. Viel nötiger ist es, zu »entindividualisieren«, und zwar mittels Multiplikation und Verschiebung, mittels diverser Kombinationen. Die Gruppe darf kein organisches Band sein, das hierarchisierte Individuen vereinigt, sondern soll ein dauernder Generator der Entindividualisierung sein.

—Verliebe Dich nicht in die Macht!

Mit diesen »7 Prinzipien, die«, wie Bismarc-Media selbst einräumt, »auch schon wieder ein wenig pathetisch klingen« (sie seien 1978 im Merve-Verlag, Berlin, veröffentlicht worden), werde das »nichtfaschistische Leben« in den Kontext einer »Lebenskunst« gestellt — im Sinne einer Ars erotica, theoretica und politica. Und dazu gehörten natürlich auch gewisse »Parolen« — Merksätze, Witze, schwere und leichte Zeichen, Privatsprachen etc., wobei »der Witz die sozialste aller auf Lustgewinn zielenden seelischen Leistungen« sei, wie Bismarc-Media, Sigmund Freud zitierend, abschließend feststellte.

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Soweit die sozio-historio-präsente Kulturanalyse der Agentur zur allgemeinen Verbesserung. Und, um es kurz zu machen, natürlich findet die taz-Berlin-Kulturredaktion die Kampagne Freie Zeichen für freie Menschen — quasi! ganz prima und unterstützt deshalb wie immer und alles auch diese und mithin auch den Fonds zur Verleihung des Wilhelm- Lehmann-Wanderordens in drei Klassen mit guten — wenn auch nicht immer ganz eigenen — Worten im Dreihundertzeilenausmaß. Aber auch in diesem Fall gilt wie immer: »Wir geben nichts — quasi!« taz