Die Häftlinge steigen auf die Dächer

■ In Rummelsburg protestieren schon 26 Gefängnisinsassen/ Sie wollen eine Amnestie und nicht nach West-Berlin verlegt werden/ Ullmann (Volkskammerpräsidium): »Erkämpfte Haftbedingungen dürfen durch Beitritt nicht verschlechtert werden«

Lichtenberg. Es sah so aus, als würde der Beitritt der DDR geordnet über die politische Bühne gehen — doch jetzt kommt Ärger von denen, an die bisher niemand dachte. In mehreren Knästen der DDR revoltieren die Strafgefangenen. In Berlin stiegen schon Donnerstag abend 16 Häftlinge auf das Anstaltsdach des Rummelsburger Knastes und solidarisierten sich mit den vier Häftlingen auf dem Dach in der Brandenburger Anstalt, die dort gestern abend noch ausharrten. Die Zahl der Protestierenden in Rummelsburg wuchs gestern mittag — trotz schwerer Regengüsse — auf 26 Personen an. Der Anstaltsleiter Wollbrück verwehrte Journalisten den Zutritt in die Lichtenberger Strafvollzugseinrichtung.

Die Rummelburger Knackis forderten auf Transparenten eine Amnestie. Sie verlangten auch, daß sie nicht in die Westberliner Knäste Tegel (Männer) und Plötzensee (Frauen) verlegt werden, weil dort die von ihnen schwer erkämpften Hafterleichterungen zurückgeschraubt würden. West-Berlins Justizpressesprecher Cornell Christoffel bestätigte gestern der taz, daß mit dem 3. Oktober »kompromißlos« das Strafvollzugsgesetz der Bundesrepublik eingeführt werden müsse. Es gelte dann genauso in Ost-Berlin. Justizsenatorin Limbach (SPD) halte auf jeden Fall an einer Verlegung fest. Von Amts wegen werde aber von Westberliner Staatsanwälten bereits jetzt »jede Akte überprüft«, so Christoffel. Strafen, die nach den Maßstäben der Westberliner Gerichte zu hoch bemessen worden seien, sollen niedriger gesetzt werden. Geeignete Gefangene sollen in den offenen Vollzug (in der Regel arbeiten sie dann außerhalb der Knäste) und wenn sie Zweidrittel ihrer Strafe verbüßt haben, entlassen werden. Die Aktenüberprüfungen von etwa 250 Untersuchungs- und 250 Strafgefangenen sollen bis 3. Oktober abgeschlossen sein.

Der Ostberliner Polizeibeauftragte Ibrahim Böhme sicherte zu, daß Gnadengesuche noch diesen Monat geprüft würden. Eine Amnestie soll es voraussichtlich nicht mehr geben, erklärte Wolfgang Ullmann (Bündnis '90), Mitglied des Volkskammerpräsidiums. »Nur eine funktionierende Justiz kann solch ein Gesetz wirklich gut vorbereiten«, sagte Ullmann der taz. Ein »luschige Planung« wecke falsche Hoffnungen und schaffe »krasse Ungerechtigkeiten«. Das Präsidium werde sich am kommenden Mittwoch »zwangsläufig« noch einmal mit diesem Thema beschäftigen müssen, aber einen Amnestiebeschluß erwartet er nicht. Daß sich durch den Beitritt die verbesserten Haftbedingungen wieder verschlechtern sollen, »geht nicht«. »Wo haben die Verhandler des Einigungsvertrages bloß ihre Gedanken gehabt, solche Sachen völlig zu vergessen«, fragte Wolfgang Ullmann lakonisch.

Mit Gültigkeit des bundesdeutschen Strafvollzugsgesetzes wären Ostberlins Gefangene nicht mehr sozialversichert und würde ihnen nicht mehr bis zu 26 Prozent ihres Lohnes, sondern nur noch fünf Prozent ausgezahlt. Auch auf die schwer erkämpften Haftverbesserungen wie offene Zellentüren sowie die Haltung von Haustieren und Pflanzen, müßten sie verzichten. Sie dürften sich nicht einmal mehr selbst Essen kochen. Dirk Wildt