Dreigroschenoper, noch einmal

■ Brecht in Köln: Raus aus den alten Bahnen

Auch wenn Günter Krämers Inszenierung der Dreigroschenoper von Bertolt Brecht und Kurt Weill bereits in Berlin und Hamburg zu sehen war — für die Kölner war sie neu. Da zeigte sich endlich wieder hochgradig artistisches Theater: Auf der breiten Metallgittertreppe, die Andreas Reinhardt als Bühnenbild bereitstellen ließ, eilen treppauf treppab die Großstädter des Jahres 1928. Dem Zeitungsjungen wird das kommunistische Propagandamaterial aus der Hand geschlagen, ein Handgemenge hebt an (aber das bleibt die einzige Anspielung auf die zugespitzten Klassenkämpfe); man strauchelt, fällt, poltert die harten Stufen hinunter, bis die sozialdemokratische Polizei Berlins mit breiten, knüppelschwingenden Reihen Ruhe und Ordnung wieder einkehren läßt, auf daß das Spiel vom Verbrecherkönig und dem aus der Tiefe der Bettler aufsteigenden J.J.Peachum beginnen kann.

Jürgen Holtz als Mr.Peachum erinnert in Aussehen, Mimik und Redeweise deutlich an den Bürgermeister Momper aus der Berliner Fichtestraße, zunächst wirkt er wie ein leitender Angestellter von Grieneisen [der den Berliner Markt beherrschende Bestattungskonzern], schwingt sich dann aber zum führenden politischen Kopf auf. Hinter seiner Verschlagenheit erscheint Größe. Macheath und seine Platte — das berlinert nach besten Kräften. Da also konzentriert sich jetzt die Bemühung um volle Strafregister. Sogar das Rosenholz-Cembalo der Großherzogin von Gerolstein, soeben vergesellschaftet, wird — wie alles an diesem Abend — auf die große Schräge gezwungen, weil auch Mackie Messers Verehelichung mit Fräulein Polly Peachum auf der einen freien Treppe stattfindet. Tiger Brown, der warmherzige Polizeichef, läßt es sich nicht nehmen, eilt all die vielen Stufen herunter aus den Höhen seines Präsidiums, um seinem Mackie zu dessen Ehrentag zu gratulieren.

Hier läßt Günter Krämer die Huren im Regen stehen. Hier keilen sich Polly und Browns Tochter Lucy, wer von ihnen denn nun die Eigentliche sei. Hier ringt der Verbrecherboß um sein Leben und die rechten Worte für die Brechtsche Schlußsentenz. Und: Der reitende Bote ist niemand anderes als der Polizeipräsident persönlich. Hoch zu Roß kommt er zur Hintertür des Schauspielhauses herein. Die karnevalistische Einlage hat den Kölnern besonders gefallen, dem neuen Schauspielchef sind damit die Herzen geöffnet.

Im Juni inszenierte Krämer an der Hamburgischen Staatsoper Mahagonny — Brecht/Weill maßvoll verfremdet und durch Aussparungen aus der Zone des Historischen gehoben. Das Vernutzte wurde so überspielt und die Lust geweckt, diesen Typus der Kultur- und Gesellschaftskritik aus den späten zwanziger Jahren wieder im Kopf zu bewegen. Nicht anders geht es auch jetzt bei derDreigroschenoper. Wiederum ist kein bestimmter Ort angepeilt — wir sind und bleiben im Stadttheater. Krämers Vor-Vorgänger Jürgen Flimm hatte 1983 in 50er-Jahre-Nostalgie das Elend der Dreigroschenoper lustvoll ausgestellt, die Kölner mit Wolkenkratzer-Skyline und flotten Huren erfreut. Krämer dagegen verweigert sich jeder Form des Historismus und sperrt sich ebenso gegen eine neuerliche politische Indienstnahme des Stückes. Er zeigt, daß die Kontraste zwischen Licht und gesellschaftlichen Schattenseiten mittlerweile womöglich gemildert wurden, daß sie freilich nach wie vor existieren. Zur Entmythologisierung Brechts hat Krämer ein gutes Stück Arbeit geleistet — gute Arbeit zugleich im Detail. Aber womöglich prallen lichte Grellheit, Dunkel und Kälte im Berlin der neunziger Jahre mittlerweile schärfer aufeinander als im Treppauf und Treppab dieser Inszenierung.

Mit ihr wurde ein weiterer wichtiger Schritt getan, hin auf die Wiedergewinnung des mit dem Niedergang der DDR in Verruf geratenen Brechtschen Erbes. Um dieses höheren Zieles willen hat Krämer auch dem Brecht fortwährend am Zeug geflickt, hat nachgebessert, weggestrichen ohnedies in größerem Umfang, aber auch dazugedichtet (nicht immer mit Fortune). Auch in Kurt Weills Partitur wurde nachgebessert, wiewohl hierzu weit weniger Anlaß gegeben ist. Aber eben auch da der Wille: Raus aus den alten, falsch eingefahrenen Bahnen. Frieder Reininghaus