„Immer spielt ihr und scherzt“

Neubeginn im Kölner Schauspiel: Günter Krämer eröffnet mit fünf Premieren, darunter Tabori und Brecht  ■ Von Gerhard Preußer

Köln hat einen neuen Intendanten. Das ist hier zwar weniger wichtig als ein neuer Museumsdirektor, Erzbischof oder Karnevalsprinz. Aber nach dem langgezogenen Todeskampf der vorausgegangenen Intendanz — heroisch kämpfte das empfindliche Walroß gegen Asbeststaub und kulturpolitische Ignoranz der Stadtverwaltung — ist die massive und frische Offensive des neuen Mannes aus Bremen eine Labsal für die Kölner. Für jeden etwas, und doch nicht konzeptionslos — dieses Kunststück gelingt dem neuen Intendanten mit einer Premierenkanonade zur Spielzeiteröffnung. Kulinarisches — Dreigroschenoper (siehe Artikel unten) und Die sieben Todsünden von Brecht/ Weill — für den Bauch, Problematisches — Tabori-Projekt und Brechts Fatzer für den Kopf. Beide Stränge, der genußvolle und der erkenntnisreiche, sind verbunden durch politische Bezüge: Zum einen geht es um Erinnerung an deutsche Geschichte angesichts einer neuen Etappe, zum anderen geht es um die Überprüfung der sozialistischen Ideale angesichts des realsozialistischen Zusammenbruchs.

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George Taboris Hitler-Farce Mein Kampf ist seit ihrer Uraufführung vor drei Jahren ein Erfolgsstück geworden. Ohne verlogene Pflichttrauer hält es die Erinnerung an die Judenvernichtung wach. Aber wenn ein derart riskant zwischen Kalauer und Katastrophe, zwischen Tabuverletzung und Theologie balancierendes Stück zur Repertoire-Nummer wird, besteht die Gefahr der Verharmlosung. „Der Erfolg bedeutender Werke bei ihrem Erscheinen ist allemal Mißverständnis“, orakelte Adorno schon kurz nach der Uraufführung von BrechtsDreigroschenoper.

Torsten Fischer, neuer Oberspielleiter in Köln und Günter Krämers unentbehrlicher Adlatus und Adept, hat ein Mittel gefunden, solchen Mißverständnisssen vorzubeugen: Er kombiniert Mein Kampf mit Taboris 20 Jahre älterem KZ-Stück Kannibalen.

In Mein Kampf zieht Torsten Fischer alle Register des Klamauks. Der junge Amateurmaler Adolf Hitler aus Braunau am Inn (Herbert Knaup) ist die Karikatur eines niederösterreichischen Dorftrampels: wallender Schnauzbart, Lederhosen, Gamsbart am Filzhut, ein flachköpfiger Hinterwäldler mit der bizarren Fähigkeit zu endloser, ekstatisch bramarbasierender Rhetorik. Und auch Frau Tod (Traute Höss), die ihn am Ende des Stückes als ihren Gehilfen, zuständig für Völkermord, einstellt, ist eine alpenländische Strickliesel mit Dirndl und Kniestrümpfen. Die groben Lacheffekte werden aber gedämpft durch die zurückgenommene, melancholische Anlage der Hauptfigur: Shlomo Herzl, der jüdische Hausierer, mit dem Hitler das Quartier im Nachtasyl teilt. Das ist ein Mensch wie der alte Tabori selber: weise, gütig, gewitzt, redselig, selbstverliebt und selbst-ironisch, ein herzlicher Mensch, ans Herz gehend gespielt von Alexander Grill.

Tabori stellt seinem Stück ein Distichon Hölderlins als Motto voran, das Adorno benuzte, um die Dialektik der Heiterkeit und Ernst in der Kunst zu zeigen: „Immer spielt ihr und scherzt? Ihr müßt! O Freunde! Mir geht dies/ In die Seele, denn dies müssen Verzweifelte nur.“ Taboris „theologischer Schwank“ ist hoffnungslos düster. Die jüdische Herzlichkeit Herzls bemuttert auch noch ihren Schlächter Hitler, es bleibt nur der angstvolle Ausblick auf die „Wiedervereinigung zweier germanischer Staaten mit allen zu Verfügung stehenden Mitteln“ (gemeint ist natürlich der Anschluß Österreichs an das Deutsche Reich 1938) und „all die kommenden Jahre, wenn das Schuhplatteln wieder zu Donnern“ wird (gemeint sind natürlich die Jahre von 1933 bis 1945).

Taboris Farce ist geradezu die Illustration von Adornos Verdikt, heitere Kunst sei nach Auschwitz nicht mehr möglich, erst recht keine Komödie über den Faschismus, nur eine Kunst jenseits von Heiterkeit und Ernst. Die Farce als Kunstform ist ein solches „komisches Gericht über die Komik“. Die Kölner Inszenierung von Mein Kampf kann diesen ästhetischen Hochseilakt über dem Abgrund der Geschichte nicht in sich allein ausbalancieren, zu oft stürzt sie ab in die Banalität und läßt sich vom weichen Netz des Publikumgelächters auffangen. Aber in der Kombination mit der grotesken Tragödie Kannibalen wird der groteske Witz von Mein Kampf produktiv.

Beide Stücke werden in demselben, leicht abgewandelten, kargen Bühnenbild gespielt. Die Kochstelle steht an demselben Ort, wo Hitlers Gehilfe Himmlischst — fachgerecht, sachlich und effektiv — Herzls Schoßhuhn Mizzi brät, dort findet auch das Opferritual der KZ-Insassen statt, dort kochen sie unter magischem Rühren ihren Mithäftling Puffi gar. So wie in Mein Kampf dem Publikum der vorderen Reihe daher brenzliger Geruch von angebratenem Fleisch entgegenschlägt, so breiten sich in Kannibalen Kochdünste im Parkett aus. Die Symbolik des Essens ist ein Leitmotiv in Taboris Stücken: Frevel an der Heiligkeit des Lebens einerseits, Akt der Selbstbehaupting andererseits. Dürfen die KZ-Häftlinge angesichts des Rückfalls in die Barbarei selbst in die Barbarei zurückfallen, um zu überleben?

Tabori gibt eine abgestufte Antwort: Diejenigen, die ihren Leidensgenossen verspeisen, um zu überleben, sind gerechtfertigt durch ihr Zeugnis, das sie von der Barbarei ablegen. Diejenigen, die Piffi kochen, aber sich weigern, ihn zu essen, als der SS-Offizier sie dabei fotografieren will, sind gerechtfertigt durch ihren Märtyrermord. Aber am höchsten steht der Jude, genannt Onkel, das Gedächtnisbild für George Taboris Vater Cornelius: Seine prinzipielle Weigerung von Anbeginn rettet die Möglickeit von Humanität. Um ihn herum toben die ekstatischen Rituale seiner Leidensgenossen. Die Regie hat das Stück durch radikale Striche zu einem kurzen, heftigen Todestanz gemacht, in dessen Mitte Onkel Tabori in absurder Gläubigkeit verharrt. Die Kombination der beiden Tabori-Stücke bestätigt, daß die Tragödie die eigentlich optimistische Gattung ist. Wer schuldlos untergeht, wie Onkel Tabori, läßt uns die Hoffnung, es könnte einmal anders kommen. Taboris fortschreitender Pessimismus zeigt sich darin, daß das lustige Stück das spätere ist.

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Brechts frühes Fragment Der Untergang des Egoisten Fatzer sollte die Kehrseite zur Glamour-Show der Dreigroschenoper im Schauspielhaus sein. Es wird unter der riesigen Stahltreppe gespielt, auf der die Bettler und Huren tanzen, in denen sich das bürgerliche Publikum wiedererkennen soll. Fatzer dagegen: Hintertreppentheater zu später Stunde für die Freunde der Avantgarde. Aber was Regisseur Dimiter Gotscheff dann zusammenbraute aus dem Zettelberg von Brechts Manuskriptblättern und Heiner Müllers Bearbeitung, schien dem Intendanten Günter Krämer schlicht „unverständlich“, und er nahm eine Woche vor der Premiere die Inszenierung selbst in die Hand. Dies ist die erste schwerwiegende Belastung dieser Intendanz. Ein Regissuer, der in Köln für Westdeutschland entdeckt wurde, der einen schwierigen, aber häufig fruchtbaren Stil hat, wurde ausgebootet. Dennoch ist das jetzt zu sehende Resultat beachtlich.

Das Chaos dieses Stückes ist das Chaos von Brechts Phase der Umorientierung in den Jahren 1927 bis 1930. Die Qual des Übergangs vom nihilistischen Vitalisten zum dialektischen Sozialisten rumort in diesem Textmaterial. Brecht legte es schließlich unfertig beiseite und hakte es ab als „unaufführbar“, geschrieben „zur Selbstverständigung“. Heiner Müller war der erste, der auf dieses Material aufmerksam machte, 1976 versuchte Franz Patrick Steckel an der Schaubühne eine den fragmentarischen Charakter offen lassende Uraufführung. Erst Heiner Müllers 1978 uraufgeführte Bearbeitung bewies die Spielbarkeit und Brisanz dieses Textes. In Köln nahm man diese Fassung, strich sie weiter ein und erreichte so ein überraschendes Resultat: ein Stück, das gradlinig eine Fabel entwickelt und glasklar einen Konflikt zuspitzt.

Fatzer desertiert 1918 mit drei anderen Soldaten von der Front des Ersten Weltkriegs, in der Hoffnung, daß eine Revolution den Krieg bald beenden werde. Sie verstecken sich in Mülheim bei der Frau eines Kumpanen. Fatzer, der Anführer, erweist sich als selbstsüchtig und unzuverlässig für das Kollektiv. Die Gruppe tötet ihn, noch bevor sie selbst alle gefaßt und erschossen werden.

Die Kargheit der Inszenierung, die Reduktion auf das Allernotwendigste, die zeitweise bis zur Nacktheit der männlichen Schauspieler getrieben wird, klärt jedoch die intellektuellen Fronten. Nietzsche gegen Marx, das war der Kampf Brecht gegen Brecht in diesen Jahren. Und heute klingen einem die Ohren, wenn man Fatzers Sätze hört: „Dieser Geist des Massenmenschen/ Lähmt mich besonders/ Seine Art ist mechanisch/ Einzig durch Bewegung zeigt er sich/ jedes Glied auswechselbar selbst die Person/ Mittelpunktlos [...] Das sind Leute, die wollen/ Daß alle gleich sind und können doch/ Alleine nicht leben.“

Was da verhandelt wird, ist die moralische Möglichkeit des Sozialismus. Fatzer, der Asoziale, der individualistische Revolutionär, wird erschossen (bei der Premiere versagte ironischerweise die Pistole). Das Kollektiv setzt sich durch, nur um selbst liquidiert zu werden.

Während Brechts Entwicklungsgang von Nietzsche zu Marx verlief — seine Umarbeitungsversuche zielen seit 1928 auf die Kritik des Fatzerschen Egoismus —, scheint Krämers Inszenierung Fatzer zu rechtfertigen und die Entwicklung umzukehren. Stefan Lahr spielt den Fatzer als agilen, kraftvollen Lustmenschen, als einen ganz heutigen, sympathisch-offenen Typ. Seine Nietzsche-Zitate würden jedem Yuppie einleuchten. Sein Gegenspieler Koch (Frank Albrecht) dagegen ist ein verknöcherter Dogmatiker, der wild mit den Armen fuchtelt, wenn er den Arbeitern Marx vorliest. Alle distanzierende Ironie der Inszenierung ist auf diesen mörderischen Apostel des Kollektivs gerichtet, so daß der Versuch, ein Gegengewicht zu schaffen, indem sich nach dem Tod der Männerclique die Frauen interessiert über das Kommunistsche Manifest beugen, halbherzig bleibt.

Niklas Luhmann bilanzierte vor ein paar Wochen in der 'FAZ‘ den ökonomischen Zusammenbruch der Planwirtschaft als das „Scheitern des Experiments der ethischen Steuerung der Wirtschaft“. Und kürzlich sang die Ex-Linke Cora Stephan im 'Merkur‘ das Hohelied des menschenfreundlichen Eigennutzes. Diese Auffassungen liegen genau in der Perspektive Fatzers, der mit Nietzsche gegen Marx argumentiert, das Böse sei ebenso nötig und arterhaltend wie das Gute.

Die Aktualität der Fatzer-Debatte auch sinnlich zu vermitteln und der Komplexität von Brechts Argumentation wirklich gerecht zu werden, konnte diese Inszenierung nicht leisten. Unter der Bedingung des Streits um die Regiekonzeption konnte Günter Krämer nicht mehr gelingen als eine szenische Demonstration der Textfassung. Aber die ist so gelungen, daß klar wird: Fatzer ist das Brecht-Stück der Stunde.