Herzbeklemmend schönes Thüringer Land

■ Eine Reise durch das neue Bundesland Thüringen im Süden der DDR — unternommen von dem Erfurter Hörspielautor und Kabarettisten Henning Pawel/ Die Thüringer sollen jetzt frei wählen/ Hoffnungsträger aus dem Land stehen zwar bereit, man vertraut aber lieber auf Importe

Völker haben ihr Schicksal,

— den Walzer, Wodka, Weiber, Nachbarn.

Die Crux Thüringens, Männer mit Bart.

Nicht ein einziges der haarigen Gesichte stammt aus dem Lande selbst. Alles Zugereiste, meist solche, die ewig auswärts blieben.

Lugwig der Bärtige, Franke,

Adolf Hitler, Österreicher,

Josef Stalin, Georgier,

Walter Ulbricht, Sachse,

Lothar de Maizière, preußischer Hugenotte.

Der Franke baute die Wartburg,

Der Österreicher Buchenwald.

Dem Georgier fiel es als Kriegsbeute zu und als Vorposten seines Imperiums, das kleine Land Thüringen. Der Sachse zog listig eine gigantische Mauer hindurch, die das Reich des Georgiers und das winzige Eigene auf ewig sichern sollte, es aber zielstrebig zerstörte. Der Hugenotte schließlich planierte. Nicht die Mauer, die war schon vor ihm weggeschafft, die Hoffnung trieb er aus, der Advokat, und die Sehnsucht auf eine andere, klügere Zukunft.

Nun stehen sie da, die Thüringer, von all den Bärtigen gebeutelt und wissen wieder einmal nicht, wie ihnen geschieht. Sie sollen jetzt Demokraten sein und endlich wählen. Die Wahl jedoch, das ist schon ausgemacht, trifft wieder keinen Eingeborenen.

Zwischen Josef Duchac (CDU), einst vertrieben gar, der Ärmste, ausgerechnet in jenen zentraldeutschen Gau Thüringen, und Friedhelm Farthmann, SPD-Import aus Nordrhein-Westfalen, muß man sich entscheiden. Dabei hätte es doch so viel eigenes Menschenvolk zum Wählen gegeben in all den Regionen des schönen, kleinen Landes.

Im Sonneberger Gebiet, tiefer DDR-Süden, bayerische Grenze, Spielzeugindustrie, Wald, Tourismus. Der Menschenschlag schon geprägt vom Nachbarvolk. Die Konturen bringen es an den Tag. Klare, quadratische Rümpfe und Häupter, rotgesichtig, aber schwarzwählend, eine Hochburg der DSU, die Mitgliedschaft zu großen Teilen ehemalige, aber jetzt geläuterte SEDisten.

Goethe würde panisch fliehen

Die Vorderrhön, Meiningen. Ein wunderbares Theater, erbaut von Georg dem II., jenem Theaterherzog, der mittels seines Residenzmusentempelchens das gesamte deutsche Theater so unvergleichlich reformierte. „Die Meininger“, Komödianten und ansässige Theaterenthusiasten, eine innige Gemeinschaft, gibt es, dem Himmel sei Dank, noch immer, und sie sind, welche Chance für diese ganze keuchende deutsche Kultur, nun nicht mehr der Steiß tiefster zugenagelter Provinz.

Suhl, in der Thüringer Waldregion, Waffenschmiede von hohem Rang. Früher Waltherpistolen und andere Kracher für Adolf, dann für Walter im Bart, heute begehrte Jagdflinten. Die dummen Rehlein laufen aber auch wirklich noch immer vor den Haustüren herum in dieser Gegend. „Rehlein seid recht bange, es dauert nicht mehr lange.“ Den abgedankten, parteifürstlichen Jägern folgen schon die neuen Schützen. USA, BRD, la France und GB. Die kaufen sich gleich ein beim Volke, dem die Jagd gehört. Welchem bitte?

Überhaupt, diese Thüringer Wälder. Unglaublich dicht und das Holz à la bonneur. Wozu, die Frage muß erlaubt sein, bei diesem Reichtum noch die ewige Kritik ertragen, wegen Brasilien und dem Regenwald. Zwanzig, dreißig Jahre reichen die hiesigen Bretter allemal. Das goethesche Ilmenau mit dem Gickelhahn ganz in der Nähe. Keine Ruhe mehr über all den Wipfeln. Goethe würde panisch fliehen. Der Krach ist gewaltig. Industrie. Technische Hochschule, Mutter vieler tüchtiger Ingenieurskinder. Ein einziger ihrer Söhne, leider völlig aus der Art, Professor Joachim Walther, einstiger Führungskader, nun Chef der DSU.

Überall stehen sie parat, die wahlfähigen Thüringer Hoffnungsträger. Man traut ihnen aber nichts zu und setzt auf Importe.

Den Berg hinunter von Oberhof nach dem Jonastal geht's nun. Nein, wie ist das schön hier, im riesigen Erholungsgebiet der DDR. Sommerferien, Wintersport. Sanfte Hänge, schroffe Berge. Tief in einem, das KZ. Hier baute des Führers Wernher, der von Braun, noch kurz vor Kriegsende die Wunderkerzen V2.

Die Raketen kamen zu spät. Die Amerikaner ebenfalls. Für Tausende Braunscher Häftlinge. Nur Herr von Braun kam rechtzeitig weg. Zur Nasa.

Die Straße geht nach Arnstadt hinein. Herrlichste Kantaten von Bach allzu komponiert. Hier, jenes Haus, ein Seufzer der Marlitt liegt noch immer in der Luft. Sie wurden hier geschrieben, unvergängliche Werke — „Reichsgräfin Gisela“, „Das Geheimnis der alten Mamsell“...

Ein Stück weiter, dicker schwarzer Qualm. Das Gummiwerk in Waltershausen. Hier hat er schon vorher und lange segensreich gewirkt, als Direktor, der Josef Duchac von der CDU, und mehr noch, auch emissioniert hat er, der schwarze Mann. Will nun aber, nach all der Dunkelheit zu Lande und in der Luft, als CDU-Ministerpräsident, Thüringen, das Herz Deutschlands, wieder grün machen.

Sie sollten besser schweigen

Eisenach. Man hustet dröhnend in allen Straßen. Doch nicht auf die geliebte Stadt und ihre Wunder. Wartburg, Bach und Wagner, Elisabeth von Thüringen und Klingsor, den Zauberer, Frau Venus im Hörselberg, schon sehr verfettet, die Verführerin. Das Essen ist aber auch unglaublich gut in der Gegend, so wie die Luft, welche husten macht, schmutzig ist.

Erfurt, Stadt der Blumen und Sämereien. Zentralregion des Thüringer Landes. Ein edler, ein schöner Menschenschlag, der besser schweigen sollte. Die Sprache ist entsetzlich.

Zweihundertzwanzigtausendfach Zischlaute, noch dazu nasal gefärbt. Sie kommen einem mitunter hoch, die weltberühmten Thüringer Klöße und vorzügliche Wurst, wenn man da zuhören muß. Die Stadt ist unglaublich. Krämerbrücke, Dom und St.Severi. Der Anger. „Kommt alle her zu mir“, ruft die alte tausendjährige Dame. Und sie erquickt wirklich. 18 Kilometer weiter endlich das Thüringer Mysterium, Weimar. Was, um Himmelswillen, wäre aus der Stadt geworden, wenn Goethe sich entschlossen hätte weiterzuziehen?

Nicht auszudenken. Kein Goethe, kein Schiller. Nicht ein einziger Wallfahrtsort. Kein Gartenhaus des Meisters, weder Frauenplan, noch Großkochberg, wo er es der armen Charlotte von Stein eben nicht besorgt hat. Doch er ist ja, dem Himmel sei Dank, in Weimar abgestiegen, der Dichterfürst, und er liegt auch hier, neben dem Friedrich Schi., in der fürstlichen Gruft. Nicht weit von den beiden die andere Schädelstätte. Gruft für sechzigtausend. Buchenwald. Ein Mahnmal, Museum, Massengräber. Neue sind gerade gefunden. Stalinopfer. Nazis und andere. Man soll die Auslieferung der Schuldigen von den Russen gefordert haben. Tüchtig. Im Gegenzug dann aber auch die Auslieferung unserer Missetäter. Allein das eingesparte Rentenaufkommen.

Das Land wird weit, die Berge kleiner. Überall Leute, die man wählen könnte. Bescheiden, humorvoll die Art in der Gera-Rudolstadt-Ronneburg-Region. Gastfreundlich, gescheit und fleißig. Bekümmert und schmerzensreich. Uran. Nicht nur die Sonne, auch die Halden strahlen. Die Menschen nicht, obwohl die Russen abziehen. Der ewige Friede kommt. Null Uran, null Arbeit.

Abertausende voller Sorgen, auch die Friseure. Schon lange vor den Russen gingen die Haare. Oft sogar von Kindern. Das Zeug liegt vor der Haustür. „Pelückenindustlie?“, fragt hoffnungsvoll ein Hongkongchinese, der sich, Wirtschaftsflüchtling vor den Roten, im Land eingekauft hat.

Wen sollen sie wählen im herzbeklemmend schönen Thüringer Land, die einfältigen, klugen, gerissenen, stolzen, warmherzigen Leute. Wen bloß? Den Josef oder den Friedhelm? Keiner ein Thüringer. Doch auch Goethe kam aus Hessen. Gewaltiger Bonus für die beiden, bärtig wenigstens sind sie nicht. Der dunkle Schimmer im Gesicht des einen? Zieht schon die neue Heimsuchung auf? Am Ende war er vielleicht nur schlecht rasiert. Henning Pawel