Der Staat hat aufgegeben

Nach dem achten Richtermord in Sizilien herrscht der Notstand der Justiz/ Rosario Livatino wird posthum scheinheilig zum „Helden“ stilisiert/ Die üblichen Schuldzuweisungen/ Mafia rüstet auf/ Strafrechtsreform begünstigt ihr Umfeld  ■ Aus Rom Werner Raith

Die Bilder des italienischen Fernsehens von den sieben „Vorgängern“ des Mordes am Richter Rosario Livatino bei Agrigent in Südsizilien gleichen einander geradezu gespenstisch: nicht nur erschossene, zerschossene Körper; danach der Trauerzug durch die Straßen der Stadt, garniert mit dem jeweiligen Staatsoberhaupt (Schnitt: der Präsident kondoliert der Witwe, den Eltern, den Kindern des Ermordeten), dem Justizminister, dem Vorsitzenden der Juristenvereinigung, einem Rudel hochdekorierter Carabinieri- und Polizeioffiziere, dem Regionalpräsidenten, dem Bürgermeister, dem Bischof; dazwischen Schwenks auf viel überwiegend bewegungsloses Volk und einige weinende Frauen.

Identisch seit 1971, als mit Oberstaatsanwalt Pietro Scaglione erstmals ein Ermittlungs-Jurist erschossen wurde, auch die obligatorischen Staatsakte — und die Sprüche der danach zu großer Form auflaufenden Politiker: nun werde man ernst machen mit dem Kampf gegen die organisierte Kriminalität, der Staat werde sich das nicht mehr weiter gefallen lassen, Tausende von Agenten, Hubschraubern, Panzerwagen werde man einsetzen. Identisch auch Polemiken und gegenseitige Schuldzuweisungen der sogenannten „politischen Kräfte“ untereinander — und ein völliger Blackout über mögliche Auftraggeber und Täter: wenn ein Richter Tausende von Fällen pro Jahr bearbeitet, gibt es auch Tausende möglicher Täter. Der Fall wird, wie nahezu alle in Sizilien, nach einigen Jahren zu den Akten gelegt werden.

So wurden und werden die mafiosen Banden immer stärker, immer mehr, gehen immer skrupelloser zur Tat. Zur Zeit Scagliones war es noch die abgesägte Schrotflinte, „lupara“ genannt, oder die halbautomatische Pistole, heute sind es die Kalaschnikow und die P 38, mitunter auch Dynamit. Zu den Anfang der 70er Jahre in Sizilien gezählten zehn Großfamilien des organisierten Verbechens mit insgesamt ca. 40 Gruppen sind inzwischen weitere 359 sogenannte „cosche“ gekommen, Bataillone von ca. 10 bis 30 Mann, die sich wiederum in etwa 60 bis 70 Großfamilien organisiert haben. Sie tragen, wo die Interessen konkurrieren — die Gesamtumsätze aus kriminellen Geschäften belaufen sich in Sizilien auf mehrere 100 Milliarden Dollar — einen erbarmungslosen Kampf untereinander aus, stehen aber brüderlich zusammen, wenn es gegen solche Staatsdiener geht, die ihren Auftrag wörtlich verstehen und „Schaden vom Volk“ abwenden wollen. Livatino ist der achte Richter in 20 Jahren in Sizilien, der sechste seit 1980, und neben ihnen fielen mehr als 100 Politiker, Polizisten, Agenten den Kugeln zum Opfer. Ein Vielfaches aller europäischen Terrorismusakte und Bürgerkriegsunruhen zusammen. Mehr als 1.000 Tote zählt die Polizei zwischen Neapel und Palermo durchschnittlich seit 1980, 1990 werden es insgesamt gut 1.200 sein, die 1.000 sind schon erreicht.

Auch diesmal lassen es sich die Politiker nicht nehmen, ihre Muskeln spielen zu lassen. Justizminister Vassalli und Innenminister Gava, Sozialist bzw. Christdemokrat, bekräftigen, daß die „ja bereits vorher angekündigten Maßnahmen gegen Mafia, Camorra und „Ndrangheta“ (die kalabresische Mafia) nun „noch schneller realisiert werden“; daß sie genau dieselben Worte vor exakt zwei Jahren, als ein Kollege Livatinos in ebenderselben Gegend ermordet wurde, benutzt haben, scheint ihrem Gedächtnis entschwunden, ebenso daß ihre Vorgänger dasselbe schon 1983 bei den Begräbnissen von Staatsanwalt Montalto in Trapani und Oberermittlungsrichter Chinnici in Palermo gesagt hatten. Ohne Schamröte im Gesicht wiederholen die Politiker auch sämtliche Etiketten, die man Gewalttoten posthum aufklebt — aber eben nur posthum, während man ihnen, wie etwa dem quirligen und äußerst erfolgreichen Ermittlungsrichter Giovanni Falcone in Palermo, zu Lebzeiten „Starkult“ oder „Präpotenz“ vorwirft: ein „Heroe“ sei der 38jährige Livatino gewesen, salbaderte der Regionalpräsident, „unerschrocken“, wie der Vorsitzende des Juristenbundes befand. „Bei Gott“, fuhr da der greise Vater Livatinos auf und stieß für einen Moment die stützenden Hände seiner Verwandten weg, „mein Junge war weder ein Held noch ein unerschrockener Kämpfer; er war schüchtern, zurückhaltend, hatte Angst. Das einzige, was er getan hat, war seine Pflicht, nichts anderes. Trauriges Land, in dem ein Held sein muß, wer seine Pflicht tut.“

Daß dem so ist, rührt direkt von den Entscheidungen der italienischen Politiker her. Mehr als 80 Prozent der staatsanwaltlichen und Richterstellen inklusive bürokratischem Personal ist südlich von Neapel vakant oder nur mit Hilfskräften besetzt; und wenn schon mal neue Kräfte geschickt werden, sind es — wie voriges Jahr in der Entführungshochburg Locri in Kalabrien — völlig unerfahrene Uni-Absolventen. Im aktuellen Haushalt hat die Regierung sogar die realen Mittel für die vorhandenen Planstellen zusammengestrichen — man müsse angesichts der Europa-Vereinigung vordringlich das Bilanzdefizit beseitigen, so die Begründung. Zu diesem Justiz- Notstand kommt eine Strafrechts- und Strafvollzugsreform, die angeblich mehr Rechtssicherheit bringen sollte. Tatsächlich argwöhnten Experten bereits früh, daß die neue Philosophie vor allem dem Mafia- und Camorra-Umfeld zugute kommen würde — und daß dies seitens so manchen Gesetzes-Promotors aus dem mafiaverfilzten christdemokratischen und neuerdings auch sozialistischen Ambiente auch so gedacht war. Realiter brachte das Gesetz mehr als 40.000 Häftlingen die volle Freiheit oder den leicht umgehbaren Hausarrest — doch fast die Hälfte gehört zu kriminellen Banden; daß nicht auch noch Bosse freikamen, hat nur ein Proteststurm des Volkes verhindert. Fast 30.000 Entlassungen gab es wegen Überschreitens der Höchstdauer von U-Haft: sie beträgt selbst bei Verdacht auf Vielfachmord nur mehr dreieinhalb Jahre (während sie gegen linke Polittäter in den 70ern auf elf Jahre hochgesetzt wurde), und der Justiznotstand im Süden wird dafür sorgen, daß diese Grenze auch künftig oft überschritten wird — zumindest, wenn man sich, wie Mafiosi, die besten Rechtsanwälte der Nation leisten kann.

Siehe Kommentar Seite 10