91.000 Datensätze „Finanzprojekt“ — Schlüssel zur MfS-Enttarnung

■ Sämtliche Mitarbeiter des Ex-MfS der DDR könnten anhand von vorhandenen Gehaltslisten sofort enttarnt werden/ Sonderausschuß der Volkskammer weiß Bescheid

Berlin (taz) — Der Sonderausschuß der Volkskammer könnte, wenn er wollte, sämtliche Mitarbeiter des früheren Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) auf einen Schlag benennen. Ihm liegt eine Liste des MfS mit der kompletten Gehaltsabrechnung für das Jahr 1989 vor: Über 91.000 Datensätze, in denen die Daten von der Sekretärin bis zur höchsten Spitze in Mielkes früherem Überwachungsapparat erfaßt sind. Das besondere: Die Auflistung mit dem Namen „Finanzprojekt“ wurde am 8./9. Januar erstellt — eine Woche, bevor empörte DDR-Bürger die Stasi-Zentrale in der Ostberliner Normannenstraße erstürmten und die Zerschlagung des gigantischen Überwachungsapparates erzwangen. Die gespeicherten Daten gelten bei den Auflösungsexperten daher als authentisch, als eine der wenigen Unterlagen, die nicht im Zuge des Auflösungsprozesses von früheren Stasi-Leuten manipuliert wurden.

Gespeichert sind die Datensätze auf Magnetband. Verschlüsselt im Hexadezimal-Code enthält es neben der Personenkennzahl der jeweiligen MfS-Mitarbeiter auch Angaben über Geschlecht, Geburtsdatum, Dienststelleneinheit, Krankengeld und sonstige Dienstabzüge. Anhand dieser Angaben ließen sich vor wenigen Wochen „Offiziere im besonderen Einsatz“ (OibE) unter anderem in Diestels Innenministerium entarnen. Zur Liste existiert auch ein Schlüsselbuch. Schlüsselbuch und Finanzprojekt waren schon zu Zeiten des SED-Staates höchst geheim. Von dem 117seitigen Schlüsselbuch existierten nur 32 numerierte Exemplare, von der jährlichen Gehaltsabrechung wurden nur zwei Kopien gefertigt. Angaben über die Dienststelleneinheit können mit dem Schlüsselbuch abgeglichen werden. Im Ergebnis läßt sich recherchieren, wer in welcher Abteilung unter welchem Abteilungsleiter gearbeitet hat.

Von Bedeutung werden die Angaben insbesondere in den Bereichen, in denen den früheren Stasi-Leuten bei ihrer Entlassung eine falsche Legende mitgegeben wurde. Geschehen beispielsweise beim Auslandsspionagedienst der Stasi. Als die „Hauptverwaltung Aufklärung“ im Frühjahr gegen den Willen der damaligen Modrow-Regierung aufgelöst wurde, kam den Stasi- Leuten vielfach eine letzte Dienstleistung zugute: Um ihnen den Start ins zivile Leben zu erleichtern, wurden die Angaben über den letzten Arbeitgeber schlicht gefälscht, die Zugehörigkeit zum MfS verschleiert. Daß es sich bei dem „Finanzprojekt“ des MfS um besonders „brisantes Material“ handelt, weiß auch der stellvertretende Vorsitzende des Sonderausschusses, Ralf Geisthardt (CDU), zu bestätigen. Die Codierung ist inzwischen weitgehend geknackt, mit dem Material wird gearbeitet.

„Wir sitzen nicht auf unseren Informationen“, sagt der CDU-Mann weiter, „unbürokratische Hilfe“ wäre beispielsweise dem Post- und dem Ministerium für Touristik und Handel auf deren Bitte hin geleistet worden. Auch Innenminister Peter-Michael Diestel (CDU), als Bremser der Stasi-Auflösung immer wieder im Zentrum der Kritik, weiß seit Mitte des Jahres um die Existenz der Gehaltsabrechnung. Wird das Band zur Auswertung in eine auswärtige Rechneranlage transportiert, stellt sein Ministerium umfangreichen Begleitschutz. Sicherheitsstufe 1 galt auch, als das Band nach seiner Sicherstellung im Rechenzentrum Peetz der Volksarmee im Juli an die Volkskammer übergeben wurde. Nachdem die Rechneranlagen in der Stasi-Zentrale im Februar abgeschaltet wurden, war das „Finanzprojekt“ zusammen mit anderer Rechnertechnik, Festplatten und anderen Bändern ins Rechenzentrum der NVA in der Wuhlheide geschafft worden. Die Daten wurden damals gebraucht, um die Entlassung von Stasi-Leuten finanziell abzuwickeln. Die Brisanz des Materials war den dortigen nicht bewußt. Mitarbeiter der Stasi-Auflöser stießen schließlich auf das „Finanzprojekt“, als sie nach den Kaderunterlagen des MfS fahndeten.

Mit dem 3. Oktober fällt das „Finanzprojekt“ in den Zuständigkeitsbereich des neuen Sonderbeauftragten, der die Hinterlassenschaften der Stasi kontrollieren soll. Jochen Gauck ( Bündnis 90), designierter Sonderbeauftragter der neuen Stasi-Aktenbehörde, hat sich zwar beeilt zu sagen, daß er den Zugang des Verfassungsschutzes zu den Stasi-Akten mit Ausnahme unterbinden will. Das „Finanzprojekt“ ließe sich dennoch für eine Regelanfrage über eine Stasi-Vergangenheit bei Bewerbungen im öffentlichen Dienst verwenden. Daß Stasi- Unterlagen mißbräuchlich verwendet werden könnten, ist nach den neuesten Plänen (etwa die Übernahme der alten Stasi-Archivare in die Behörde des Sonderbeauftragten) wieder wahrscheinlicher. Wolfgang Gast