Keine Iphigenie Musterfrau

■ Premiere im Bremerhavener Stadttheater: Goethes „Iphigenie auf Tauris“

Die Bühne: Ein heller Raum mit umlaufender Treppe im Hintergrund und Ausgängen auf verschiedener Höhe, eine gläserne Zwischenwand teilt den Raum diagonal; im Vordergrund ein Sofa und seitlich ein Tisch, auf dem ein Stapel Bücher liegt. Da sitzt Iphigenie, schreibt, zerknüllt das Papier, wirft es in den überquellenden Papierkorb, fängt an vorzulesen, zögernd, fragend. Sie rezitiert die ersten Sätze aus Goethes Versdrama, als wäre sie selbst die Autorin, „der Frauen Zustand ist beklagenswert (...), wie eng-gebunden ist des Weibes Glück...“. Sie verläßt den Schreibtisch, geht auf die andere Seite der Bühne, wo auf dem Boden ein unscheinbarer Plattenspieler — Modell 50er Jahre — steht, und legt Dietrich Fischer-Dieskau auf, Schuberts Goethe-Vertonung „Wer nie sein Brot mit Tränen aß“.

Ein Anfang, der neugierig macht, und eine intelligent gebaute Bühne (Wolfgang Caesar), so beginnt die Inszenierung der Gastspiel-Regisseurin Gabriele Mugdan, mit der am Sonntag das Stadttheater Bremerhaven die neue Schauspiel-Saison eröffnete. Keine antikisierende Klassik mit wehenden Gewändern und pathetischer Deklamation, sondern ein intimes Kammerspiel zwischen fünf Personen: den Dienern Arkas (Stephan Larne) und Pylades (Bernhard Koessler- Dirsch), den Herren Orest (Markus Kopf) und Thoas (Hanno Wingler). Zwischen ihnen Iphigenie (Iris Heuchert), die ihren Bruder Orest nicht mit den Waffen der Männer, sondern mit Worten vor dem Opfertod nach taurischem Brauch rettet und den zornigen Taurer-König Thoas mit ihrer Wahrheitsliebe zur Milde bewegt.

Gefährdete Emanzipation

Iphigenie auf Tauris zeigt in kunstvoller Sprache den schönen Traum vom Triumph der Menschlichkeit. Der barbarische Ritus einer finsteren Götterwelt, aber auch das listige Handeln der Griechen unterliegen der entwaffnenden Offenheit einer Frau. Gabriele Mugdan zeigt Iphigenie nicht als unerreichbares Muster für schlichte Einfalt und edle Größe — die Frau als hehres Gegenbild zur Männerwelt —, sie zeigt einen immer gefährdeten Emanzipationsprozeß. Goethes Drama wird für die Personen auf der Bühne, die in der Gegenwart und aus der Gegenwart heraus agieren, zum klassischen Modell für eigene Gefühlslagen. Deren Unterschiedlichkeit unterstreicht die Regisseurin mit den Farbtönen, in die sie ihre Figuren kleidet. Lila (und elegant geschnitten) für den schuldbewußten (weltgewandten) Orest, rotes Wildleder für den König der Barbaren, ein kornblumenblauer Rock für Iphigenie. Das Regie- Konzept ist einsichtig und bis in Details überzeugend, aber es geht nicht immer auf: Es gelingt den DarstellerInnen in den ersten drei Aufzügen nicht, Spannungsabfälle im handlungsarmen Spiel zu vermeiden. Die Regisseurin läßt ihnen viel Zeit für die im Gespräch allmählich ausgebreitete Vergangenheit der Figuren, sie hetzt sie nicht durch die Verse.

Aber die DarstellerInnen wirken stellenweise überfordert, ganze Passagen lang bleibt die Sprache blutleer, die Protagonisten rezitieren steif und meistens im Sitzen, abrupte Erregungen, wildes Gestikulieren und plötzliche Schreie wirken aufgesetzt und wenig motiviert. Erst im zweiten Teil — nach einer Pause - kommt die Inszenierung zu sich. Hier werden die choreografisch geführten Bewegungen stimmig. Iris Heuchert als Iphigenie gewinnt eine vorher nicht erreichte Souveränität — mit betont nüchterner, häufig leiser, niemals pathetischer Stimme gibt sie die am meisten überzeugende Figur. Hanno Wingler spricht die Schluß-und Abschiedsworte des Königs, das „Lebe wohl“, so, daß einem die Worte — endlich — heiß und kalt über den Rücken laufen. So viel Spannung hätte ich mir durchgehend gewünscht. Aber wie soll das erreichbar sein bei einer gerade fünfwöchigen Probenzeit, für ein Stück, das sich jeder mühelosen Spielbarkeit entzieht. Gabriele Mugdan hat eine diskutable Klassik-Inszenierung gezeigt, es ist die beste seit Amtsantritt des neuen Intendanten. Hans Happel