: Bremen: Ein Volk von Kriminellen
■ Die Polizei hat jeden dritten Erwachsenen Bremer in ihrer „Verbrecherkartei“
Ist jeder dritte erwachsene Bremer ein Krimineller? Zumindest die Polizei scheint davon auszugehen. Denn über 100.000 BremerInnen hat sie in ihrer erkennungsdienstlichen Datei gespeichert. Rund 10.000 von ihnen sind sogar mit Foto in der „Verbrecherkartei“ vertreten, die Zeugen und Opfern von Vergewaltigung, Raub, Diebstahl, Überfall und ähnlichen Straftaten vorgelegt wird, um den Täter zu identifizieren. Schon mehrmals hatte Bremens Datenschutzbeauftragter die Sammelwut der Polizei kritisiert — doch passiert ist bis heute nichts.
Als der damals noch amtierende Datenschützer Alfred Büllesbach sich im Frühjahr eine Stichprobe der Fotokartei vorlegen ließ, stellte sich heraus, daß über 60 Prozent der dort gespeicherten Personen unter völlig unzulässigen Kriterien in die Kartei geraten waren. So tauchte zum Beispiel das Bild eines 13jährigen Mädchens auf. Es war nur deshalb in die „Verbrecherkartei“ geraten, weil es keinen Personalausweis hatte und deshalb nach einem Vorwurf des Ladendiebstahls von der Polizei erkennungsdienstlich behandelt worden war.
Sowohl in seinem Jahresbericht als auch in einem gesonderten Brief bemängelte Büllesbach damals die Speicherung der Polizei und forderte den Innensenator ultimativ auf, bis zum Ende des Sommers einen Plan vorzulegen, wie der Mißbrauch der „ED-Kartei“ künftig verhindert werden soll. Bis heute kam weder eine Reaktion noch ein Gesprächsangebot zurück. „Die Bremer Sammelwut ist nachweislich rechtswidrig“, beklagt Büllesbachs Nachfolger Sven Holst, „aber wir sind jetzt trotzdem erstmal am Ende unserer Möglichkeiten angelangt“.
Der Datenschutzbeauftragte hofft nun auf die Hilfe des Parlaments. Dessen Datenschutzausschuß tagte in der vergangenen Woche zum Thema ED-Kartei. „Unbefriedigend“ fand dort der Ausschuß-Vorsitzende Horst Isola (SPD) die Erklärung des zuständigen Senatsdirektors Helmut Kauther, ein Durchforsten und Löschen der riesigen ED- Kartei sei „aus Personalmangel“ nicht möglich gewesen. „Es ist unverantwortlich, wenn die Innenbehörde mit dem Hinweis auf fehlendes Personal Rechtsverstöße stillschweigend akzeptiert“, erklärte auch das grüne Ausschuß-Mitglied Martin Thomas und forderte die Einrichtung einer „Sonderarbeitsgruppe“, die für das Löschen überflüssiger Daten sorgt.
Bis heute werden die BremerInnen, die einmal in die Datei gerieten, nämlich nur nach zehn Jahren wieder herausgenommen. Selbst bei einem Freispruch vor Gericht oder bei ihrem Tod werden weder die Daten noch die Fotos aus der „Verbrecherkartei“ genommen. Im Gegenteil: Sie werden sogar an das Bundeskriminalamt und alle Landeskriminalämter weitergeleitet. „Eine so große Kartei ist doch sogar für die Polizei selber nicht mehr handhabbar“, gibt Datenschützer Holst zu bedenken.
Im Innenressort hofft man unterdessen auf die Segnungen der elktronischen Datenverarbeitung. Wenn die nämlich ab 1991 unter dem Namen „ISA-D“ auch in das Bremer Polizeihaus einzieht, müssen alle Karteikarten sowieso in die Computer übertragen werden. „Dann wird es auch eine Überarbeitung geben“, verspricht der Pressesprecher des Innensenators, Hermann Kleen. Bis dahin allerdings bleibt Bremen — zumindest aus polizeilicher Sicht — zu einem Drittel „ein Volk von Straftätern und Kriminellen“, wie Martin Thomas aus dem Umfang der ED-Kartei kombinierte. Dirk Asendorpf
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