Das ist kein Spiel

■ »Die Räuber« in und um die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz

Auf daß die erste Premiere dieser Saison — Schillers »Räuber« in der Inszenierung von Frank Castorf letzten Samstag — nicht schon die letzte sei, ist man in der »wahren Volksbühne« am Rosa—Luxemburg—Platz am Wochenende mit einem 48stündigen Spektakel offensiv geworden. Eine Theaterkritik und ein Lagebericht

von Detlef Kuhlbrodt

Holzgetäfelt warten die hohen Wände — so hoch, daß sich das Tuscheln der Zuschauer verliert — auf den Kronleuchter, der imposante Kronleuchter wartet auf die Bühne. Die Bühne auf der Bühne — hergestellt von Bert Neumann — ist ein hölzerner Kasten mit in den Boden eingelassenen Schützengräben. Beige oder rauchgelb wie alte Tapeten, mit ein paar blassen Blumen zierlich bedeckt. Nach hinten wird sie schwarz zunächst noch abgeschlossen vom »Schaufenster zur Welt« ('adn‘); vorne, von der Bühne auf der Bühne an den Bühnenrand, können die Schauspieler fast bis in die erste Zuschauerreihe rutschen. Das nutzen sie häufig.

In Frank Castorfs Inszenierung von Friedrich Schillers Sturm-und- Drang-Drama Die Räuber trinken zwei Räuber Bier, stoßen an, daß das Glas zerbricht, unterhalten sich über Prometheus und die schöne Freiheit jenseits der einschnürenden Gesetze. Einer legt den Kopf verächtlich zur Seite, wenn er die alltäglichen Freiheitssurrogate erwähnt, und guckt spöttisch ins Publikum. Sie drehen sich oder tanzen oder springen im Slapstick wie Stan Laurel; immer beschützt von der Genauigkeit ihrer Gesten, sprechen zwei Räuber ins Publikum und stützen sich auf die Lehnen der ersten Reihe; Sätze, die den Raum begrenzen zwischen einem rebellisch-erhabenen Heroismus — der Mut wächst in der Gefahr — und dem Realismus des Tatsächlichen: »Ich wüßte nicht, wozu wir den Mut noch gebrauchen könnten, den wir bis jetzt nicht gehabt haben.« Stichwort Leipzig; DDR, Herbst 89, Vereinigung. Sie lassen sich Zeit, spielen mit dem Publikum, lassen Raum für Rufe, die auch kommen, die gekontert werden: »40 Jahre hier opportunistisch rumschnarchen und dann alles haben wollen; ihr ‘Kadett‚-Fahrer, ihr«, raunzt Franz Moor (Henry Hübchen), einen an, der seinen Schiller gespielt haben will. Glücklich ist das Theater, das noch seine »Kadett«-Fahrer hat.

Castorf benutzt Schiller als Vorgabe; nicht um im Text zu improvisieren — wenig bleibt übrig —, sondern um ihn von außen, mit Bruchstücken anderer Autoren, mit anachronistischen Anarchorockeinsprengseln, mit Jacques Brel oder den Stones verschaltet, mit Aktuellem zu deuten. Revolutionäre sind Räuber oder kleinbürgerliche Rebellen, die sich ihren narzißtischen Identifikationen hingeben. Im Blick auf sich selbst, wenn der Räuberhauptmann im Knäuel der Überwältiger immer wieder sagt: »Mich woll'n sie doch haben«, im Kannibalismus als Einverleibung des anderen, in den Abgrenzungen der Bande, denn das gute »wir« lebt durchs Schweine-»die«. Das Gute braucht das Böse, und um bös zu sein, braucht es die Grenzen des Gesetzes, die gleichzeitig anerkannt und durchbrochen werden, und es braucht den feststellenden Blick oder das aufgeladene Bild, das sich mit anderen nicht verbinden mag. Der Rebell verzichtet auf eine deutliche Handlungsführung. Im Blick steht er selbst. Sein narzißtisches Ich würde gefährdet, müßte es mit anderen eine Geschichte finden.

Romantisch, um die Vorgeschichte als Posthistorie zu feiern, läßt Castorf Hegels Herr-und- Knecht-Kapitel aus der Phänomenologie des Geistes oder ein paar Bruchstücke aus den 120 Tagen de Sades zitieren und nähert sich so dem Westen. Pluralistisch reihen sich Effekte aneinander, als wäre das Man- kann-heute-kein-Theater-mehr-machen ideologisch unverdächtig. Im Unverbindlichen gehen Räuber Hand in Hand voran, nach hinten oder nach vorne, sentimental, wenn sie kämpferisch alte Scherben-Lieder mitsingen — spontaner Beifall —, fast kitschig, wenn sie die in linke Lagerfeuerromantik getauchten Moorsoldaten andächtig noch einmal mitsummen: »Einmal werden froh wir sagen: Heimat, du bist wieder mein.« Hinten öffnet sich die Bühne zum hellen Horizont; eine schlanke Birke steht im Wind.

Die Schauspieler sind großartig: An einer Stelle zum Beispiel spielt man rückwärts — wer einen Videorecorder hat, kann sich vorstellen, wie schwer das ist. An einer anderen Stelle ziehen sich die Räuber und Räuberin nach dem Niederbrennen einer Stadt aus, um in neuen Uniformen Vergangenheit zu vergessen, eine andere zu erinnern: »In der rechten Hand das Gewehr, in der linken das Buch zum Studieren. Wir werden Beschützer der Heimat sein, wir, die Volkspolizei.«

In Sade-Kapiteln über Verkehrungen oder Voyeurismus/Exhibitionismus, durch den sadistischen Standbildfetischismus, spiegelt sich die Aufführung in sich selbst, sucht sich zu rechtfertigen, sucht sich mit dem Publikum zu verbinden. Franz Moor besteht darauf, »das ist kein Spiel!«, und antwortet einem Zwischenrufer (»geh doch nach drüben!«) traurig mit einem: »Sag, ich hab' dich lieb, Franz«, und unterbricht eine Zeitlang abwartend sein Spiel. Eine kleine weiße Maus wird in eine Papiertüte gesteckt und abgeklatscht. Ob's Theater- oder echtes Blut ist, ist nicht zu erkennen.

»Das Recht steht auf seiten des Überwältigers«, heißt es irgendwann. Danach spricht man von einer der letzten Theaterschlachten in der DDR.

Die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz sei der Ort, von dem vor einem Jahr der DDR-Wende »weitreichende Impulse« gegeben worden seien und die große Novemberdemo angeleiert worden war. Schon vor der ersten Premiere dieser Spielzeit und dem großen anschließenden Räuber-Spektakel berief man sich vorsorglich auf diesen Teil der Geschichte und ganz generell auf 100 Jahre wahrer Volksbühnen-Bewegungstradition, die jetzt, wo der Etat nur noch bis November gesichert ist, in Gefahr geriete. Dennoch machte man sich Mut: »Die Volksbühne hat schon andere Krisen überstanden«, betonte, daß man auch früher kein Staatstheater wie das »Deutsche« gewesen sei, rief in Erinnerung, daß man mit 6,5 Millionen Mark Subventionen im Jahr eher schlecht bedient worden wäre, verwies auf eine 76prozentige Auslastung und hofft gegen Anke Martinys & Co. inzwischen wohl abgeschmetterte Vereinigungs- und Tanztheaterpläne für mindestens eine der beiden Volksbühnen in der Stadt auf »Gleichstellung« im Wettbewerb.

Mit der neuen Spielzeit beginnt der Wettbewerb, dem man sich mit den Räubern stellt. Als eine »Aufarbeitung von Vorbildern« will Frank Castorf, das »Enfant terrible der Theaterszene im östlichen Deutschland« ('dpa‘), für den »die Rock'n'Roll-Kultur« prägend gewesen sei, seine Inszenierung verstanden wissen, will zurückgreifen auf einen stürmisch drängenden Schiller, dessen Räuber viel »Augenrollen« und »Geifern« hervorgerufen hätten, auf Schiller, »auch so 'n Räuber«, der in einer Zeit, als 20 Prozent der Gesellschaft Außenseiter gewesen wären, diese zum Thema gemacht hätte, und er will an das Theater von Erwin Piscator anknüpfen, das er als »Spätauswirkung des Dadaisms mit lebensvollen, spackigen Menschen« verstanden wissen möchte. Piscator, einer der »der Bewegung nahestand«, hätte sich den »sozialen Zerrissenheiten« einer interessante Stadt in einer »wahnsinnigen Zeit« gestellt. Diese Zeit sieht Castorf irgendwie wiederkehren und möchte andere soziale Schichten ansprechen, in die Volksbühne holen, kurz, »am Prenzlauer Berg neue Zuschauer finden, ohne andere vor den Kopf zu stoßen«.

Seine zwei Premieren waren schützend umgeben von dem, was man sich so angewöhnt hat, Kleinkunst zu nennen; von DieRäuberAndererMachArt (kurz: D.R.A.M.A.), einem 48stündigen Theater-, Mal-, Sprech-, Musik- und Aktionsmarathon, der Samstag um 24 Uhr begann und Montag um 24 Uhr zu Ende ging. »Die Gäste werden nicht nach Hause geschickt. Das Haus öffnet sich« (Sabine Zielke vom Künstlerspekatakel). Andere kommen.

Im kunterbunten Narrenkleid steht Klaus Rudolf, die »Kunstpartei Vogelfrei«, auf einem Gerüst vor der Volksbühne, kündet in seiner das 48-Stunden-Drama eröffnenden Ansprache vom »Ende der großen Belehrung«, verschaltet höhnend Zitate aus dem Endlichkeit-der-Freiheit- Katalog, schimpft gegen »Anke- Nein-Danke«, wie die Westberliner Kultursenatorin inzwischen häufiger genannt wird, und hofft auf deren Ostkollegin Irana Rusta. Genau in diesem Augenblick wird die so Gelobte und bis dahin leibhaftig Anwesende mit dem Mercedes fortgefahren.

Unten, vor dem Gerüst, stehen die Kamerateams. Als Hyänen der Kultur schieben sie sich zwischen Zuschauer und fünf musizierende Räuber — eine Mischung aus nekrophilen Heavy-Metal-Grufties und den sattsam bekannten Friedensbärten. Um die besseren Live-Bilder zu bekommen, verdecken die Kameras die Künstler. »Wir sind die Volk«, stöhnt Rudolf, nicht nur bei der Eröffnung, sondern auch am nächsten Tag — am Sonntag — beim wegen mangelnder Beteiligung mißglückten »Räuberumzug« die Rosa-Luxemburg-Straße hinauf und hinunter, und ein Mann am Rande gibt zu verstehen, was er von »die Volk« hält: »Wie die schon aussehen«, und: »Mit der MG mal reinhalten.« Im Innern der Volksbühne jedoch ist es still, gerade wenn man sich verlaufen hatte auf seinem Weg zu einer der 90 Aktionen, zu Malereien, Lesungen, Theaterstücken, Konzerten. Manchmal landete man in spärlich beleuchteten Gängen, irgendwo, hinter der Bühne, wo nur eine einsame Sektflasche von anderen Menschen kündete. Manchmal landete man in der dunklen Stille zwischen den Worten, die Marlies Ludwig da von de Sade zitiert, und wo eine Art Spiegelei aus Plastik oder ein Hut auf einem kargen Eisenbett im Licht einer Taschenlampe träumt. Leise und schön stellt das »Makabarett Hallimarsch« aus Leipzig mit Mundi, Klarinette, Gitarre zwischen Barock und Jazz und Chanson Lieder von Villon bis Mühsam vor. An allen Ecken gibt es Barmusik vom Klavier. Manchmal landete man draußen, in einem kleinen Biergarten, vorne gibt's »Kindl«, hinten wird auf Plakaten noch für die bessere Molle aus Friedrichshagen geworben — tags darauf wechselte der Stand seinen Platz. Manchmal suchte man die Toilette und fand eine scheppernde Band auf dem Männerklo. Ein freundlicher Wirt im Café vermag mit lachsfarbenem Hemd zu bezaubern; draußen macht man in Actionpainting oder Objektkunst — ein lustig bunter BMW besteigt einen Trabi von hinten —, draußen verkunsten Kain Karawahn und Käthe B., glatzköpfiger Vorzeigevernissageler, einen flammenden Kreis. Im weißen Pullover liest Ortmann den letzten 'Zeit‘-Text von Biermann. Überall stehen und sitzen die Leute, und anscheinend hat jeder was zu bereden, während Dichter auf verschiedenen Bühnen zu Amon-Düül- ähnlichen Klängen ihre Sprach- und Identitätsstörungen lallend aktualisieren.

»Das Ich — diesem Schurken will ich mal begegnen«, so hieß es noch im schönen Mrozek-Stück der Podium-Manufaktur, so dachte man noch zwischen Traum und Wirklichkeit, als man sich in einem der zwanzig zur Verfügung gestellten Feldbetten niederlegte.