Keine politischen Häftlinge in der DDR?

Äußerungen des amtierenden DDR-Justizministers Manfred Walther wie „Jubelamnestie“ und „keine politischen Häftlinge in der DDR“ haben Knackis am Wochenende landesweit auf die Palme beziehungsweise auf die Dächer gebracht  ■ Von CC Malzahn

Berlin (taz) — Die Häftlingsrevolte hat gestern de Maizière Bundesinnenminister Schäuble telefonisch konsultieren lassen. Die Volkskammer sah sich genötigt, über die Forderungen der DDR-Häftlinge kurz vor Toresschluß zu debattieren, nachdem sich die DDR-Knastproteste am Wochenende landesweit ausgeweitet hatten. Um ihrer Forderung nach Aktenüberprüfung und Amnestie Nachdruck zu verleihen, harren bereits seit vergangener Woche 18 Gefangene der Haftanstalt Brandenburg auf zwei Dächern ihres Gefängnisses aus. 98 weitere Insassen befinden sich im Hungerstreik. Bis zum Wochenende kam es in insgesamt 20 Haftanstalten zu Protesten, darunter Sitz- und Hungerstreiks und Dachbesetzungen in den Gefängnissen von Bautzen, Magdeburg, Torgau, Halle, Dresden, Stollberg, Waldheim und Bützow. Im Untersuchungsgefängnis Frankfurt/Oder demolierten Insassen mehrere Räume. Die Leiter der Haftanstalten in Berlin-Rummelsburg und in Brandenburg warnten vor einer Zuspitzung der Situation.

Was die Knackis am Wochenende auf die Palme beziehungsweise auf die Dächer brachte, war vor allem eine Äußerung des DDR-Justizministers Manfred Walther. Der hatte auf die Unruhen in Brandenburg mit der Bemerkung reagiert, es gebe in der DDR keine „politischen Gefangenen“ mehr. Nur Einzelfälle könnten im Hinblick auf Strafnachlaß überprüft werden. Diese Äußerung stieß nicht nur bei den Knackis auf Widerspruch. In einer vom Anstaltsleiter und Gefängnispfarrer unterstützten Erklärung wiesen Bautzener Häftlinge gestern darauf hin, daß noch immer politisch motivierte Straftäter einsitzen würden. Mittlerweile haben 30 Gefangene der Haftanstalt Pankow Anzeige gegen Walther wegen „Verleumdung und öffentlicher Herabwürdigung in Tateinheit mit der Verbreitung unlauterer Tatsachen“ erstattet. 19 Insassen der Rostocker Haftanstalt sind inzwischen in den Hungerstreik getreten und fordern, daß sich Justizminster Walther im Fernsehen von seinen Äußerungen distanzieren soll.

Während es den DDR-Häftlingen um Amnestie bzw. Überprüfung der Urteile und eine deutliche Herabsetzung langer Haftstrafen geht, fürchten sich die Insassen der Ostberliner Knäste auch vor einer Verlegung nach West-Berlin nach dem 3. Oktober. So haben sich die Gefangenen in Rummelsburg seit der Wende eine Reihe von Hafterleichterungen erkämpft, von denen die Knackis in den West-Knästen nur träumen können: Kein nächtlicher Zelleneinschluß mehr, tagsüber freie Bewegungsmöglichkeit auf dem gesamten Gefängnisgelände, Erlaubnis zum Halten von Haustieren. Auch Hafturlaub wird in Ost-Berlin zur Zeit generöser erteilt als im Westteil der Stadt. Die Rummelsburger haben außerdem Angst vor Aids, Drogen und Gewaltverbrechen im West-Knast. Weil die Arbeit in den Ostberliner Gerichten am 3. Oktober eingestellt und von der West-Justiz übernommen wird, fürchten sich U-Häftlinge vor langen Untersuchungshaftaufenthalten, bevor sie in ordentlichen Verfahren verurteilt werden. Auch die Sozialversicherung der Ost-Knackis fällt am 3. Oktober weg, — dazu kommt, daß sie dann nur noch fünf anstelle von bis zu 26 Prozent ihres Lohnes ausgezahlt bekommen. Die Häftlinge werden von Wächtern und Gefängnis-Angestellten unterstützt. Die Strafvollzugsbediensteten aus Brandenburg forderten eine modifizierte Amnestie, worüber das Präsidium der Volkskammer aus Anlaß der Einheit entscheiden solle. Ihr Vorschlag: Verkürzung aller vor dem 18. März gefällten Verurteilungen um zwei bis drei Jahre.

Die Senkung der lebenslangen Haftstrafen auf 15 Jahre solle individuell geprüft werden. In Rummelsburg werden die Dachbesetzer von ihren Bewachern mit Tee, Decken und Nahrungsmitteln versorgt. Hinter der plötzlichen Solidarisierung stecken freilich auch egoistische Motive: Den Ostberliner Knastangestellten droht bei Schließung der Haftanstalten Arbeitslosigkeit.