Beschluß des Obersten Sowjet über die Einführung der Marktwirtschaft
: Der lange Abschied vom Plan

■ Der Anschluß der DDR an den westdeutschen Kapitalismus ist ein Kinderspiel verglichen mit dem Übergang des sowjetischen Reiches zur Marktwirtschaft. Der Oberste Sowjet schiebt die Entscheidung vor sich her, ob er den kurzen, radikalen Weg des 500-Tage-Programms wagen soll. Gestern früh schließlich fiel nur eine Vorentscheidung. Gorbatschow bekam die verlangten weitreichenden Vollmachten.

Als sich die Deputierten des Obersten Sowjets der UdSSR gestern in aller Herrgottsfrühe im Kreml- Palast versammelten, geschah etwas völlig Unerwartetes. Schon in der ersten halben Stunde stimmten die Parlamentarier für die Annahme des seit einigen Wochen hart umkämpften neuen Wirtschaftsprogramms, mit dem die Sowjetunion den Marsch in die Marktwirtschaft antreten will. Eigentlich hatte die Entscheidung schon am Freitag fallen sollen. Doch äußerten viele Redner ihre Bedenken über die Eile, viele plädierten dafür, das Programm noch einmal zu überarbeiten und möglichst einen Kompromiß zwischen der gemäßigten Regierungsvariante und dem marktwirtschaftlichen Schatalin-Plan zu finden. Ihren Unmut mit der derzeitigen Version bekundeten sie dadurch, daß sie der Nachmittagssitzung am Freitag einfach fernblieben. Das Parlament war nicht beschlußfähig.

Was hat sich nun übers Wochenende getan? Wurde eine neue Fassung erarbeitet? Für die Beobachter in Moskau hat sich seit Freitag nichts verändert. Grundsätzlich gab der Oberste Sowjet am Montag früh sein Placet, um auf der Basis des Schatalin-Plans die Wirtschaft umzukrempeln. 323 Deputierte stimmten dafür und elf dagegen. Doch versah er sein Votum mit dem entscheidenden Zusatz, Gorbatschow solle „ein gemeinsames Programm vorbereiten, um die Wirtschaft zu stabilisieren und den Übergang zur Marktwirtschaft einzuleiten“ — und zwar bis zum 15. Oktober. „Wir brauchen den Konsens und nicht die Konfrontation“, dankte Gorbatschow.

Schon Ende August war der Wirtschaftswissenschaftler Abel Aganbegjan von Gorbatschow mit der Suche nach einem Kompromiß betraut worden. Er baute einige Momente des Ryschkow-Vorschlags in das radikalere Schatalin-Programm ein, damit die Regierung Ryschkow ihr Gesicht wahren konnte, und seitdem heißt das „Schatalin-“ oder „500-Tage-Programm“ nun „Präsidentenplan“. Für diesen stimmten die Abgeordneten gestern, aber auch er wird nun noch einer Revision unterzogen. Und die Abgeordneten verschoben die Entscheidung darüber, wann und wie schnell der Weg zur Marktwirtschaft gegangen werden soll. Im Klartext bedeutet das, den Sowjetbürgern wird vorgegaukelt, daß ihre Volksvertreter hart an der Verbesserung der miserablen Lebensverhältnisse arbeiten.

So sah es auch Stanislaw Schatalin, der aufgebracht erklärte: „Es gibt keinen Kompromiß zwischen den Entwürfen der Regierung und des Präsidenten. Ich habe keine Lust, an einer Show teilzunehmen.“ Ähnlich reagierten die radikaldemokratischen Bürgermeister Moskaus und Leningrads, Gawril Popow und Anatolij Sobtschak. Vor der Abstimmung appellierten sie an das Hohe Haus, über das radikalere Programm zu befinden.

Wem nützt diese Verschleppung? Erst einmal kann die Unionsregierung unter Ryschkow im Amt bleiben. Am Sonntag abend hatte noch der stellvertretende Minister der Union, Leonid Abalkin, ebenfalls Ökonom, gedroht, er werde aus dem Amt scheiden, sollte der Oberste Sowjet für Schatalin stimmen. Ministerpräsident Ryschkow hatte in einem dramatischen Fernsehappell das Parlament aufgerufen, den Schatalin-Plan abzulehnen. Der Übergang zur Marktwirtschaft sei nicht in 100 oder 500 Tagen möglich, sondern „brauche Jahre, viele Jahre, nicht Tage“. Die katastrophale Versorgungslage in der Sowjetunion würde sich bei unkontrollierten Preisen im bevorstehenden Winter noch verschlimmern. Die Regierung kann nun ihr Gesicht wahren. Daran liegt übrigens auch Gorbatschow, dem keine alternativen Kandidaten für eine Regierungsneubildung zur Verfügung stehen. Am Sonnabend berief die KPdSU für den 8. Oktober noch eine Sitzung ihres Zentralkomitees ein. Augenscheinlich will die Partei noch ein Wörtchen über die wirtschaftliche Zukunft des Landes mitreden. Es fällt ihr schwer, sich mit ihrem Bedeutungsschwund abzufinden, seitdem die Macht schrittweise an die Sowjets übertragen wurde und die Rolle des Politbüros vom Päsidentschaftsrat Gorbatschows wahrgenommen wird.

Parallel zum Wirtschafts-Programm haben die Abgeordneten noch über einen Antrag Gorbatschows beschlossen, der den Präsidenten mit sehr weitgehenden Vollmachten ausstattet. Kaum eine Sphäre des gesellschaftlichen Lebens der UdSSR ist nunmehr vor seinem Zugriff per Dekret sicher. Sein Anliegen begründete er mit dem desolaten Zustand des Landes, das vor dem Zerfall stünde. Von Moskau aus könnte er dann die Beschlüsse der Republik-Vertretungen einfach für null und nichtig erklären. Daß das ein probates Mittel ist, um das Land zusammenzuhalten, bezweifelte er allerdings selbst. Die abtrünnigen Republiken werden auf diese Art „Bedrohung“ auf jeden Fall ihre eigene Antwort finden. Das Parlament der russischen Föderation verwarf den Vorstoß bereits als einen unzulässigen Eingriff in ihre Souveränität. Andere werden folgen. Am frühen Nachmittag gaben gestern 305 Abgeordnete bei nur 36 Gegenstimmen dem Präsidenten, was er haben wollte. Klaus-Helge Donath