Krug voller Altlasten

■ “Der zerbrochene Krug“ / Bremer Theater eröffnet neue Spielzeit klassisch

In einer Typologie des Beifalls müßte der Applaus nach der Bremer Premiere des zerbrochenen Krugs ein eigenes Kapitel erhalten: Vom unüberzeugten Ansatz erhob er sich nach ringsumwitternder Vergewisserung, schwoll, sobald die Stars sich neigten, die anfänglich selbst erstaunt über den Erfolg schienen, und stieg in andauernde Höhen wie erleichtert. Wie befreit von der Altlast der katastrophischen letzten Spielzeit.

Zweite Altlast des notorischen Repertoirestücks deutscher Bühnen: Der Schweizer Regisseur Urs Schaub (Jg.'51) und sein Dramaturg Ulrich Fuchs haben im Gegensatz zur bisherigen Aufführungspraxis die Urfassung (“Variant“) von Kleists Lustspiel gewählt, die 1808 in Weimar fürchterlich durchgefallen war (Regie: Goethe). Grund: Ans eigentliche Ende des Dramas hatte Kleist noch einige langatmige Abschweifungen zur Lage der Justiz und, für Eingeweihte, zur Lage der Nation angesichts Napoleons angehängt. Weil Bremer Theater zumindest ambitioniert ist, versicherte man sich der Mitarbeit eines Literaturprofessors und nahm den ganzen Kleist.

Ein Krug ist zerbrochen (und eine Liebe und eine Welt), und der Dorfrichter Adam hat einen Fall, der sich im Laufe der Verhandlung als der seine herausstellt, da er es war, der dem Mädchen Eve nachstieg und Irdenes zerschlug. Die Komödie lebt davon, daß ein Gerichtsinspizient auftaucht, der das Dorfgemauschel aufdeckt und auf höherem Niveau ersetzt. Das Winden, die Ausfälle des Richters machen, neben Kleistschem Sprachwitz, die Lust im Spiel, das eigentlich eine Tragödie ist. Und: der devot- hinterfotzige Gerichtsschreiber Licht, dessen kalte Korrektheit von einer neuen Zeit kündet.

„Unsichtbares Theater“: Die Handlung liegt zurück oder außerhalb und muß in den Köpfen der ZuschauerInnen entstehen. Das erfordert ein Spiel von höchster Präsenz, kein Problem für den körperlich und stimmlich raumfüllenden Thomas Meinhardt als Adam, mühsam indes für Rollen mit langen Schweigestrecken im 2 1/2-Stunden-Stück; Wolfgang Pauls (Gerichtsrat) ewiglang fassungslos-augenrollend, Thomas Bammer (Bauernsohn) immerfort verdrossen zähneknirschend. Im übrigen stimmte das Tempo, und regelmäßige burleske Explosionen verhinderten vorzeitige Ermüdung im Anflug.

Ausgedacht, zumindest aber nicht naheliegend ist die Verlegung des Krugs in die 60er per Bühnenbild und Kostümierung (Florian Parbs). Ein Oldtimer- Moped lehnt an der Schlafzimmerwand, Eve (Ute Rauwald sehr niedlich und maulig) trägt Blümchenmini, der Schreiber (Lutz Herkenrath, vielbelacht) eine schrille Brille. Zerbrach in den 60ern so viel? Erinnerte Schaub die Konskription für den Kolonialkrieg in Ostindien, womit Adam Eve erpreßte, an Vietnam?

Ambitionen genug in der ersten Premiere der neuen Spielzeit, aber so unaufdringlich, daß sie sozusagen als intelligenter Unterstrom ein vergnügliches Stück begleiteten. Die „Variant“-Fassung allerdings stiftet in Bremen wie in Weimar noch immer mehr Verwirrung und Länge als Sinn. Der Bremer Krug: Der Rückgriff auf einen Klassiker bringt nichts Aufregendes, aber grundsolides Theater. Was hier inzwischen bejubelt wird. Burkhard Straßmann