Die Langlebigkeit von Gerüchten

■ Gerüchte über Tote oder Schwerverletzte bei Auseinandersetzungen in Ost-Berlin und Kreuzberg nicht bestätigt/ Gerüchteküche brodelt weiter

Berlin. Gerüchte sind langlebig — auch wenn sich bislang im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen in Kreuzberg sowie der Ostberliner Innenstadt keinerlei reale Grundlage dafür finden läßt. Die Hartnäckigkeit jedoch, mit der an dem Gerücht über schwerverletzte oder gar tote ausländische MitbürgerInnen im Zusammenhang mit Übergriffen von Rechtsradikalen am Sonntag festgehalten wird, hatte immense Folgen: Rund 400 DemonstrantInnen, überwiegend aus dem autonomen Spektrum, sowie türkische Jugendliche nahmen das Gerücht zum Anlaß, am Montag abend gegen 19 Uhr von der Kreuzberger Adalbertstraße zum Ostberliner Alexanderplatz zu ziehen. Nach Angaben der Volkspolizei seien dabei Scheiben eingeschlagen, ein VW- Bus angezündet und Parolen gegen Großdeutschland gesungen worden. Nach kurzen Auseinandersetzungen mit der Volkspolizei ging's dann zurück nach Kreuzberg, wo sich gegen 22.40 Uhr die Lage wieder »normalisierte«. Bereits am Vortag hatte das Gerücht über Übergriffe von Rechtsradikalen auf ausländische Passanten auf dem Alexanderplatz dafür gesorgt, daß sich ausländische Jugendliche ebenfalls an den Auseinandersetzungen beteiligten.

Verletzte auf seiten der Demonstranten gab es allem Anschein nach erst am Montag: 'adn‘ schrieb von einer jungen Ausländerin, die »in den Grünanlagen mit einer Kopfverletzung aufgefunden« worden sein soll. Die zuständigen Polizeistellen in Ost und West konnten dies jedoch nicht bestätigen. Der Pressesprecher des Ostberliner Polizeipräsidiums zur taz: »Uns ist ein solches Gerücht zu Ohren gekommen. Doch alle Nachforschungen blieben bislang ergebnislos.« Auch die Ostberliner Feuerwehr konnte keine Auskunft geben. Die Westberliner Feuerwehr wurde an keinem der beiden Tage in diesem Zusammenhang eingesetzt. Der leitende Arzt des Ostberliner Rettungsamtes, der den Einsatz sämtlicher Rettungswagen in Ost-Berlin noch einmal überprüfte: »Da ich davon informiert wurde, daß sich am Alex etwas zusammenbraut, blieb ich im Amt. Doch während der gesamten Zeit wurde nicht ein einziger Rettungswagen zum Alexanderplatz angefordert.« Auch die Rettungsstelle im Urban-Krankenhaus hatte keine Schwerverletzten aufgenommen.

Ungeachtet dessen brodelt in SO 36 die Gerüchteküche weiter. Jeder hat irgendwas gehört, doch immer nur über drei, vier Ecken. In Szenekneipen erzählt man sich mittlerweile von drei toten Ausländern, in einem türkischen Jugendklub berichten 14jährige von einer Frau, die »mit neunundzwanzig Messerstichen« auf dem Alex verblutet sein soll; in einem türkischen Café lassen sich Halbwüchsige über »die Mörder« aus und reden davon, daß man »die Nazis vernichten« müsse.

Angeblich kursiert außerdem ein Flugblatt in Kreuzberg, in dem von Toten im Zusammenhang mit den Übergriffen geredet wird, unterzeichnet von den »Revolutionären Kommunisten«. Aber möglicherweise stellt sich das genauso als Gerücht heraus wie Befürchtungen, daß die offiziellen Stellen aus Angst vor Unruhen bei der »Vereinigungsfeier« kurzerhand Nachrichtensperre verhängt haben. Schwarz auf weiß bewiesen ist jedoch, daß CDU- Generalsekretär Landowsky die jüngsten Ereignisse dazu nutzte, mal wieder auf den rot-grünen Senat einzuprügeln: Jetzt räche sich die Zerschlagung des Verfassungsschutzes durch Senator Pätzold und die AL. Und: »Ab dem 3. Oktober muß die Berliner Polizei entschieden durchgreifen.« Doch schon DDR-Innenminister Diestel ließ die Gerüchteküche wieder aufbrodeln: Seinem Ministerium lägen Informationen vor, wonach Rechts- und Linksextreme nach Berlin zögen, um die Feierlichkeiten am 3. Oktober »mit Aktionen zu stören«. ok/maz