Keine Spuren? Also weiter

Ein Spaziergang zu den Pariser Orten Walter Benjamins  ■ Von Alexander Smoltczyk

Zwei lange Tage unterwegs im septemberlichen Paris, mit anderthalb Pfund Passagenwerk und einem patentgefalteten Abbild der Stadt im City-Bag — das steckt man nicht so einfach weg, da verwirren sich die Sinne im Abgashauch, es hupt im Schädel und jüngstvergangene Lektüre greift schockartig nach dem halbbewußt dahintorkelnden Flaneur. Man entsteigt der Métro bei Convention, steckt das Billet als Lesezeichen in die Geschichtsthesen, läßt sich hochspülen durch die Gedärme der Untergrundbahn und flieht vor klobigen Allradautos, die dahindröhnen, als zögen sie in den Krieg, hinter die Topf-Hecke des Le Dupont — und ist schon nicht mehr über das erstaunt, was auf der weißen Bluse des Gar¿on gestickt zu lesen ist: „Central Park“. Zentralpark — die legendären Skizzen aus dem Nachlaß. Auch wird die Uhr auf dem Platz gerade repariert, die Zeiger sind abgenommen, das Ziffernblatt verschwunden, stillgestellte Zeit. Wir wissen: ils tiraient sur les cadrans pour arrêter le jour Also auf zum Tiger-, zum Katzensprung in die Vergangenheit.

Rue Dombasle Nr.10. Rauhverputze Gründerzeitfassade, im Parterre die Boutique „L'Elégance — Salon de Toilettage“. Hinter dem verführerischen Signum verbirgt sich ein prosaischer Hundefriseur, der schon lange hier im 15. Bezirk wohnt, aber weder von Walter Benjamin je etwas gehört hat, noch von Arthur Koestler, noch von all den anderen Emigranten, die sich unter dieser Adresse 1938 eingemietet hatten. Die letzte alte Mieterin sei vor zehn Jahren gestorben, und an den Klingelschildern stehen jetzt Namen von neuen Immigranten aus Kolumbien und aus Vietnam. Keine Spuren? Also weiter.

Mit der Métro, Linie 12: ConventionVaugirard — Solférino haben die schmachvollen Ketten der rue, der place von sich abgeworfen, sind hier im blitzdurchzuckten, pfiffdurchgellten Dunkel zu ungestalten Kloakengöttern, Katakombenfeen geworden. Dies Labyrinth beherbergt in seinem Innern nicht einen sondern Dutzende blinder, rasender Stiere, in deren Rachen nicht jährlich eine thebanische Jungfrau, sondern allmorgentlich tausende bleichsüchtiger Midinetten, unausgeschlafener Kommis sich werfen müssen. Eine hochschwangere Zigeunerin aus Rumänien geht durch den Wagen und ruft einige Sätze in der fremden Sprache, die sie auswendig gelernt hat und sonderbar betont wie Tantras, auf deren Wortsinn es nicht ankommt. Über dem Bauch schleppt sie ein Kleinkind, die linke Brust hängt frei heraus.

Umsteigen in Saint Lazare, Richtung Galliéni bis Bourse, dann einige Schritte bis zur Bibliothèque Nationale. Wenn Paris die meistbeschriebene Stadt der Geschichte ist, so ist dieser Ort die Monade, aus der sich ein Bild eben dieser Geschichte konstruieren läßt. Zehn Millionen Bücher — „Toute la mémoire du monde“. Im Winter 1939/40, nach der Entlassung aus dem Internierungslager in Nevers, kam Benjamin jeden Tag aus der Rue Dombasle herüber zu seinem „ersehntesten Arbeitsplatz“: Meine Wohnung ist zwar geheizt, aber nicht genug, um dort schreiben zu können, wenn es kalt ist. Also bleibe ich die Hälfte der Zeit im Bett, wie jetzt auch. [...] Ich darf sagen, daß der Tag, an dem ich zum ersten Mal wieder in die Bibliothèque ging, im Haus wie ein kleines Fest war, schrieb er an Gretel Adorno. Nur hier konnte er an seinem Passagenwerk schreiben. Dem Versuch einer Mentalitätsgeschichte des 19.Jahrhunderts, die dessen kollektive „Wunschsymbole“ in seinen technischen, literarischen und massenästhetischen Produkten gebannt sieht.

Es ist schwer, einen Platz zu bekommen. Am vorderen Tisch sitzt ein pergamenthäutiger Greis vor einem Wälzer, liest nur, macht sich keine Notizen, als sei es ihm nur um das Wachhalten eines Wissens zu tun. Auch Michel Foucault hat unter diesen Kuppeln den größten Teil seines Lebens verbracht und Schicht für Schicht die Mechanismen der Konstruktion von Wissen freigelegt. Irgendwo hier an einem der 360 Leseplätze muß Benjamin tagaus, tagein gesessen haben, beschäftigt damit, Unmengen von Zetteln zu beschreiben. Ein Foto Gisèle Freunds (neben Michel Leiris die wohl einzig Überlebende in dieser Stadt, die mit Benjamin noch befreundet war) zeigt ihn unten im Katalogsaal, ins Studium der Karteikarten versunken. Zum Flanieren war keine Zeit und auch kein Geld. Die Schecks vom New Yorker Institut für Sozialforschung blieben spärlich, um jeden Franc mußte gehadert werden. So wohne ich jetzt bei Emigranten als Untermieter [in der Rue de Bénard 23, d.Red.]. Es ist mir außerdem gelungen, Anrecht auf einen Mittagstisch zu bekommen, der für französische Intellektuelle veranstaltet wird. Aber erstens ist diese Zulassung provisorisch, zweitens kann ich von ihr nur an den Tagen, die ich nicht in der Bibliothek verbringe, Gebrauch machen; denn das Lokal liegt weit von ihr ab. Nur im Vorbeigehen erwähne ich, daß ich meine Carte d'identité erneuern müßte, ohne die dafür nötigen 100 Francs zu haben. Also flanierte Benjamin in den Archiven, dies aber mit der gleichen Geistesgegenwart wie der Flaneur Baudelaires, immer bereit, jedem blitzartigen Einfall nachzugehen; vor sich die gußeisernen Säulen, die ihre technische Moderne mit goldverziertem Geranke bedecken, und über sich das schummrige Licht der neun Glaskuppeln, der Abdeckung des Himmels der Großstadt.

Für sein Buch über die Urgeschichte des 19.Jahrhunderts schickte Benjamin die Freundin Germaine Krull aus, um die Passage du Caire im Sentier-Viertel, nördlich von Beaubourg, zu fotografieren. Wer konnte wissen, wie lange sie der Haussmannisierung, bzw. deren unziviler Form: dem Weltkrieg, standhalten würde? Die Straßen hier sind gleich nach Napoleons Ägyptenfeldzug gebaut und ihren Namen sehr schnell und dauerhaft ähnlich geworden: die Rues du Caire, d'Aboukir, d'Alexandrie sind orientalische Basarstraßen, damals wie heute. Auf Lastkarren werden Tuchballen eilig übers Pflaster geschoben und pakistanische Faktoten schleppen vollbehängte Kleiderstangen aus den Sweatshops der Hinterhöfe in die Vorderhaus-Boutiquen. Infolge des allgemeinen Gedrängels steht der Verkehr vollkommen still.

Zwischen den Schaufenstern der Rue du Caire steht auf der Schwelle eines Bürgerhauses eine schwarze Hure mit unwirklich langen Beinen. Wie selbstverständlich zwischen den eiligen Einkäuferinnen aus Milano und den ätherischen Anbieterinnen von „Kookai“ und den anderen. Hier hat die Mode den dialektischen Umschlageplatz zwischen Weib und Ware — zwischen Lust und Leiche — eröffnet. [...] Denn nie war Mode anderes als die Parodie der bunten Leiche, Provokation des Todes durch das Weib und zwischen geller memorierter Lache bitter geflüsterte Zwiesprach mit der Verwesung. Das ist Mode. Darum wechselt sie so geschwinde; kitzelt den Tod und ist schon wieder eine andere, neue, wenn er nach ihr sich umsieht, um sie zu schlagen. Sie ist ihm hundert Jahre lang nichts schuldig geblieben. Nun endlich ist sie im Begriff, das Feld zu räumen. Er aber stiftet an den Ufern einer neuen Lethe, die den Asphaltstrom durch die Passagen rollt, die Armatur der Huren als Trophäe.

Die Passage du Caire zieht sich unter ihrem Glasdach durch einen ganzen Häuserblock. Die Firmenschilder, die auf Germaine Krulls Fotos zu sehen sind, sind die gleichen, nur die Aufschriften haben sich geändert: „Zellophan — Papierbeutel — Ladenschwengel — Etiketten aller Art“, heißt es da. Nackte Schaufensterpuppen, pink und weiß, im Sonderangebot, Spezialgeschäfte für Einwickelpapier. Phantasmagorien? Tempel des Warenkapitals, in denen hinterrücks und nur für den unbedarften Kinderblick des Flaneurs erkenntlich ein Kult zelebriert wird, eine Urwelt geheimnisvoller Affinitäten, in der lauernd die Odaliske lagert, neben dem Tintenfaß und Adorantinnen Schalen hochheben, in die wir Zigarettenstummel als Rauchopfer legen? Die Schaufenster sind heute hell ausgeleuchtet, Einwickelpapier wird in Zwanzig-Meter-Rollen verkauft, im Dutzend billiger. Sofern noch alte Boutiquen aus dem 19. Jahrhundert erhalten sind, wie einen Block weiter in der Passage des Panoramas beim Graveur Stern, wird Authentisches zum Werbegag.

Die Schwellenerfahrung, die Benjamin in den alten Passagen des 19.Jahrhunderts ortete, hat ihre Adresse gewechselt. Wenn Aragon und Breton 1919 aus Montparnasse flohen, um den Sürrealismus in Saint Germain ins Leben zu rufen, so sind die heutigen Passagen wieder zum Tour Montparnasse zurückgekehrt, in die immensen „Centres commerciaux“, den „Galeries Lafayette“. Das gleiche zeitlose Zwielicht. Hier, abgeschottet von der Außenwelt, in einem Medium ewig wohltemperierten Lichts und summender Radiomusik hat sich das Intérieur nach außen gestülpt, um den Passanten Geborgenheit vorzuspiegeln. Hier gibt es weder Uhren, noch Grenzen zwischen Trottoir und Geschäftsräumen. Die Schaufenster gehen bis an den Boden herunter, ein jeder ist zugleich drinnen und draußen. Aber auch hier wird nicht geträumt, ist jeder Winkel ausgeleuchtet, die Regeln sind bekannt, der Schleier längst gelüftet. Wenn dies noch Urgeschichte ist, dann hat man es sich in ihr bequem gemacht und denkt nicht mehr ans Aufwachen.

Auch an jener Ecke der Rue du Four zum Boulevard Saint Germain, wo Benjamin in seinem (inzwischen geschlossenen) Hotel 1934 den plebejischen Aufständen, die sich hier abgespielt hatten, nachsann (Daß die gegenwärtigen Bewegungen zu etwas Greifbarem führen, glaube ich übrigens nicht: aber sie sind überaus interessant zu verfolgen), haben sich Banken in die alten Hotels eingenistet. Und von den Erfolgen der französischen Arbeiterbewegung zeugt nur noch ein „Monoprix“-Supermarkt aus der Volksfront-Zeit: Standardprodukte zum Einheitspreis — aber erschwinglich für jedermann. Auf einer Bank sitzt eine Bag-Lady mit ihren bindfadenumtäuten Tüten und stellt schon keinen Teller mehr vor sich hin.

Alles ist noch da: die Warenhäuser, Passagen, die Plätze und Eisenkonstruktionen, die Huren, Modistinnen, Börsenjobber. Selbst ein Chiffonnier manövriert seinen Bahnhofskarren lumpengefüllt durchs Hallengelände bei ChÛtelet. Überall noch das 19. Jahrhundert. Zitat und Montage bestimmen längst das Straßenbild dieser Stadt, Fassaden wie aus dem Werbespot, die Mode zitiert Bacall-Filme und Plattencovers, eine Pyramide wurde ins Herz des Louvre gebaut, Haussmanns Traum erfüllte sich endgültig als die Zentralachse der Stadt bis weit nach Westen weitergeführt wurde, wo sie in der Stahl- und Glaswüste „La Défense“ in einem Triumphbogen endet... Übergangslos ist aus dem „Noch nicht“ das „Post“ geworden. Die Trümmer häufen sich immer mehr, und an rettende Entwürfe mag keiner mehr glauben. Statt dessen wird das Zerstreute zur ästhetischen Kategorie erhoben und die Trümmer werden gestapelt zu „post“-modernen Sozialbauwohnungen, die mit ihren falschen Giebeln, ihren gewölbten Fassaden feige an die Vielfalt der Proletenbehausungen erinnern, auf deren Ruinen sie errichtet wurden. Von Benjamin keine Plakette, keine Spur in dieser Stadt. Requiescat in pace — der Alptraum geht weiter.