Auf den Spuren von Martin Luther King

■ Atlanta, Stadt der Olympischen Spiele 1996, einmal anders

Das Geld hat gewonnen, wieder einmal. Ein Erfolg der Nostalgie und des geschichtlichen Bewußtseins wäre die Wahl von Athen gewesen. Aber das Internationale Olympische Komitee (IOC) hat sich vergangene Woche bei seinem Kongreß in Tokio dafür entschieden, die Olympischen Spiele von 1996 nach Atlanta zu vergeben. 100 Jahre Olympia, zu diesem historischen Datum schienen die Chancen der griechischen Hauptstadt nicht schlecht.

Aber dann: Atlanta. Stadt des IOC-Hauptsponsors Coca-Cola, der dort seine Hauptverwaltung hat. Typisch, hieß es in allen Kommentaren, der korrupte Haufen Olympier hat sich einmal mehr bloßgestellt. Richtig. Aber dann wollten wir wissen, was einen dort außer Hochhäusern und braunem Süßstoff noch erwartet, und haben den ehemaligen USA- Korrespondenten der taz nach seinen Eindrücken gefragt.

Und Stefan Schaaf schrieb zurück:

Lieber Sportredakteur!

Ich sollte Dir und den LeserInnen doch mal etwas über Atlanta erzählen, hat du mich gebeten: „Du warst doch als taz-Korrespondent ein paarmal dort.“ Der Schreck saß Dir noch in den Knochen, als Du hörtest, daß nicht das schöne Athen, sondern nach 1984 schon wieder eine Ami- Stadt den Zuschlag des Olympischen Komitees erhalten hatte.

Nochmal so eine chauvinistische Medaillen-Orgie wie das Spektakel von Los Angeles muß man sich ja nicht unbedingt reinziehen, das stimmt. Aber damals befanden sich die Vereinigten Staaten auf dem Höhepunkt des von Reagan angestachelten nationalen Größenwahns, bis 1996 kann sich da viel zum Besseren wenden.

In einem will ich Dich, der Du ja vielleicht dann als Berichterstatter über den großen Teich jetten wirst, beruhigen: Atlanta als Stadt ist ziemlich Klasse. Warum? Weil es fast alles gibt, was man von einer amerikanischen Stadt erhofft. Und weil außenrum mit dem Bundesstaat Georgia eine der vielseitigsten und interessantesten Regionen der USA liegt.

Mein Freund und Kollege Martin Kilian, der ja im eine Stunde von Atlanta liegenden Universitätsstädtchen Athens vor zehn Jahren seine ersten taz-Artikel in eine verbeulte Schreibmaschine hämmerte, kommt immer ins Schwärmen, wenn er auf Athens und auf Georgia zu sprechen kommt. Und das nicht, weil er ein unverbesserlicher Romantiker wäre, der sich dauernd mit Tränen in den Augen „Vom Winde verweht“ auf dem Video reinzieht.

Viel eher, weil ihn der amerikanische Süden mit all seinen skurrilen Seiten und bizarren Gestalten so fasziniert.

Ich weiß natürlich nicht, ob Du in sechs Jahren vor lauter Sport und Medaillen Zeit haben wirst, auf den kleinen Seitenstraßen ins Hinterland zu fahren und die mit spanish moss behangenen Steineichen und die von Kudzu überwucherten rostigen Tankstellen-Ruinen zu bewundern oder der aus einer Holzhütte aufsteigenden Rauchfahne zu folgen, die fast immer das Kennzeichen einer pit barbecue-Kaschemme ist. Ganze Schweine garen dort in einer Holzkohle-gefüllten Grube vor sich hin und duften meilenweit, um an langen Tischen mit überdimensionierten Pommes Frites, Krautsalat und pappsüßem Eistee verspeist zu werden.

Zumindest wenn Du zu den Segelwettbewerben nach Savannah an der Atlantikküste fährst, wirst Du ein bißchen davon zu sehen bekommen. Savannah ist ebenfalls eine Reise wert. Die alte Hauptstadt der Baumwollindustrie ist heute so wunderschön verschlafen, daß man sich in die fünfziger Jahre zurückversetzt fühlt. Schöne alte Häuser und Plätze gibt es, und jede Menge seafood vom feinsten, dabei sehr preiswert für us- amerikanische Verhältnisse...

Aber zurück nach Atlanta. Etläähna sagen die Einheimischen zu ihrer Stadt, in der das Big Business die alte Südstaatenromantik längst verdrängt hat. Die ist eigentlich schon verschwunden, als Lincolns General Sherman 1864 auf seinem legendären Marsch zum Atlantik die Stadt in Brand setzte. Nur noch das Kapitol mit seiner goldenen Kuppel ist alt in der Innenstadt, sonst ragt vor allem futuristisches Beton in den Himmel.

Atlanta ist die Geschäftsmetropole der Südstaaten mit gewaltigen Zuwachsraten, von denen sich andere US-Großstädte gern ein, zwei Prozent abschneiden würden. Atlantas Flughafen ist größer als der von New York City, zwischen den verschiedenen Terminals verkehrt eine flughafeneigene U-Bahn.

Aber Atlanta hat auch eine ausgedehnte studentische Subkultur, das heißt unzählige Kneipen und Clubs, in denen man Blues, Jazz und Rock hören kann.

Aber das wichtigste an Atlanta ist seine schwarze Tradition. Das Morehouse College ist wohl die berühmteste schwarze Universität im ganzen Land. Schon früh wußte der schwarze Mittelstand hier seinen Einfluß geltend zu machen. 1936 etwa führte der Pastor der Ebenezer Baptist Church einen Protestmarsch gegen die Diskriminierung der Schwarzen vors Rathaus. Sein Sohn, Martin Luther King Jr., sollte zwanzig Jahre später zum Führer der Bürgerrechtsbewegung werden, die die Verhältnisse im ganzen Land dramatisch änderte. Die Ebenezer Baptist Church liegt — ebenso wie Kings Geburtshaus und seine Grabstätte in der Auburn Avenue — recht nah am Stadtzentrum, so daß man sich sehr leicht auf die Spuren „Dr. Kings“, wie seine Anhänger ihn verehrungsvoll nennen, begeben kann.

Der ehemalige Bürgermeister und UNO-Botschafter Andrew Young, der jetzt die Olympischen Spiele nach Atlanta holte, war übrigens einer der engsten Mitarbeiter Dr. Kings.

Also, laß' Dich nicht schrecken. Atlanta ist sicher kein beschauliches Kleinod, aber als Stadt allemal einen längeren Aufenthalt wert. Stefan Schaaf