Von Petra Bornhöft
: Ein Stück gehobene DDR-Seife

■ Peter Michael Diestel schlägt seit Beginn seiner Karriere Schaum, seift ein und flutscht immer wieder weg/ Der Grund für den Erfolg einer programmatisch-politischen Nullnummer: Wie kein anderer Minister verkörpert Diestel die neue DDR-Identität

Im Land Brandenburg werde die CDU keine Wahlplakate mit dem Porträt des Spitzenkandidaten aufhängen. Denn „wie Diestel aussieht wissen die Leute. Ich habe nicht das Recht, die Bevölkerung mit meinem Konterfei zu belästigen“, feixt der Spitzenkandidat im Potsdamer Interhotel vor JournalistInnen. Vier Tage später, am vergangenen Samstag, hängen seine Bilder an den Potsdamer Straßenlaternen — dutzendfach. Peter Michael Diestel selbst fehlt an diesem „Ersten Brandenburg-Tag“ auf dem Platz der Nationen trotz Ankündigung. So ist der Mann mit dem glatten Gesicht: Er schlägt Schaum, seift ein — und flutscht weg.

Sein Erfolgskriterium lautet: „Wenn bis zum 3. Oktober kein politischer Mord geschehen ist, habe ich meine Aufgabe erfüllt.“ Nichts scheint die DDR derart zu bedrohen, wie ein „Bürgerkrieg“, meint Diestel und wirbt im Wahlkampf für „Toleranz“. Seine Auftritte versteht er glänzend als „Staatsgeschäft“ zu verkaufen. So stellt er sich auf der Bühne des Stadttheaters Luckenwalde — die erste offizielle Wahlveranstaltung vor zehn Tagen — mit den Worten vor: „Hochverehrte Damen und Herren, ich spreche zu Ihnen nicht als CDU-Wahlkämpfer sondern als stellvertretender Ministerpräsident und Innenminister.“ Die knapp hundert ZuhörerInnen mittleren Alters nehmen die Flunkerei widerspruchslos hin. Beifall belebt den schmucklosen Saal als Diestel mit seinem neuesten Standard-Repertoire aufwartet: „Meine Aufgabe ist es, Ruhe, Ordnung und inneren Frieden im Land zu organisieren. Darauf muß ich mich konzentrieren und deshalb mache ich keinen Wahlkampf“.

„Ich war einer von Millionen DDR-Bürgern“

Solche Sprüche beruhigen angesichts der tatsächlichen und vermeintlichen Wirren in der DDR. Wahlkämpfe à la Westen haben längst an Attraktivität verloren, und das Hauptproblem in Luckenwalde scheinen Unruhe und Unordnung im kleinstädtischen Zentrum zu sein. So beherrschen Klagen über die „primitive und wilde Handelstätigkeit“ auf dem „Boulevard“ — Ernst-Thälmann-Straße, der Name für die Fußgängerzone ist aus dem Luckenwalder Sprachschatz gestrichen — die ministerielle Fragestunde. War der Zwischenruf „Schmeißt die Vietnamesen raus“ zu leise für des Politikers Ohren? Er schweigt dazu. Mit dem CDU-Landrat und dem lokalen Spitzenkandidaten ist Diestel sich einig, daß „der Luckenwalder Boulevard einer der schönsten im Lande ist. Sie haben recht, hochverehrter Herr, der Schmutz muß weggemacht werden“. Zufriedene Mienen.

Die sichert sich der 38jährige Kraftsportler auch wenige Stunden später bei der Visite im früheren „Ringerstützpunkt“, dem heutigen Schwimm- und Ringer-Leistungszentrum und Domizil des „1. Luckenwalder Sportclubs der Polizeisportvereinigung“. Zunächst probiert er einen Teil der „phantastischen Krafteinrichtungen“ aus. Dann spricht Dienstel vor fünfzig Kriminalisten und Sportlern „von meinem größtem Kampf, den ich nach einer vierstündigen, beispiellosen Schlammschlacht und Hetzkampagne in der Volkskammer gewonnen habe“. Er meint jene formell- turbulente Parlamentsdebatte um seine Abberufung als Innenministers.

Viele seiner Zuhörer vom örtlichen Kreiskriminalamt saßen damals vor dem Fernseher und „haben ihm kräftig die Daumen gedrückt“. Angewidert erinnern sich die PolizistInnen an die „respektlosen“, „unverschämten“, und „gemeinen Hetztiraden“ gegen ihren obersten Dienstherren im Parlament. Sind sie denn nicht irritiert, über die allseitigen Vorwürfe wegen der schleppenden Stasi-Aufklärung? „Nee, er hat sich rechtsstaatlich verhalten“ — wie selbstverständlich dieses Adjektiv geworden ist — „die wollen ihm nur ein Bein stellen“, schneidet eine resolute Mittdreißigerin jede weitere Frage ab. Auch ihre Kollegen wollen darüber nicht mehr Worte verlieren. Später, im Versammlungsraum, lächeln sie zustimmend und hoffnungsfroh, als Diestel sein Erfolgserlebnis in jener Nacht erläutert: „Ich muß Ihnen sagen: hartes Training und starker Wille sind geeignet, sich durchzusetzen. Wenn Sie das auch einbringen, werden wir die sozialen Ängste überwinden.“

Über ein rhetorisches Talent verfügt der Mann gewiß nicht. Doch an die Phrasen der großen und kleinen Honeckers gewöhnt und des leblosen Bonner Geschwaffels ziemlich überdrüssig, freut sich das Publikum über Diestel, der es nie versäumt, sich beim „hochverehrten Herrn“ für die „anständige“, „gute“, „kluge“ oder auch „unangenehme“ Frage „herzlich“ zu bedanken. Auf diese Weise umgarnt er den kleinsten Polizisten wie den schärfsten Kritiker. Das Luckenwalder Publikum zeigt sich mit dem Hinweis auf die „Schlammschlacht“ in der Volkskammer und Diestels „rechtstaatlich begründete Weigerung, rechtswidrig Recherchen“ über die Stasi anzustellen, denn auch zufrieden. Obwohl diese Version bekanntlich den Tatsachen widerspricht. Daß der Minister, „wie ein Mann zu seiner Vergangenheit im Kuhstall steht, wirkt eben auf Menschen“, freut sich ein Parteikollege.

An Selbstbewußtsein, der (neuen) Mangelware jenseits der Elbe, fehlt es dem Schwimmlehrer und DDR- Vizemeister im Melken (1969) nicht. Für den „schönen Beruf des Melkers“ empfindet er „viel Sympathie, weil ich dort fundierte Kenntnisse und Referenzen habe und nicht soviel geistigen Vergewaltigungen ausgesetzt bin oder seelischem Streß. Da sitze ich unter meiner Kuh und habe warme Hände“, plauderte der ausgebildete Facharbeiter für Rinderzucht bei einem Interview Anfang des Jahres. Nach dem Jurastudium (1974-78) arbeitete er als Berater bei diversen LPGs. Daß Diestel in seiner Dissertation 1986 die Kommandowirtschaft des SED-Regimes pries — wer von seinen potentiellen WählerInnen sollte es ihm verdenken? Die Schleimerei gehörte zum gesellschaftlichen Konsens, dem sich nur eine Minderheit verweigerte. Diestel schlug sich stets auf die Seite der Mehrheit: „Ich war kein Widerstandskämpfer, habe mich nur um Sport, Beruf und Familie gekümmert, wie Millionen andere DDR- Bürger.“ Balsam für die geschundene Ost-Seele.

Welche fachliche Qualifikation er in den langen LPG-Jahren erreicht hat, darüber bewahrt Diestel Schweigen. Gern betont er seine „besondere Bindung an die Landwirtschaft“ und „eigene Vorstellungen“ zur Agrarpolitik. Im Wahlprogramm der CDU-Brandenburg erschöpfen sich die Gedanken zur „effektiven Land- und Forstwirtschaft“ in vier Spiegelstrichen. Dem Luckenwalder Theaterpublikum antwortet der Kandidat auf die Frage nach seinem Wirtschaftskonzept: „Wir müssen eine Landwirtschaft entwickeln, die mit der der BRD konkurrieren kann. Das heißt, Flächen müssen stillgelegt und Arbeitskräfte frei sowie umgeschult werden. Dafür brauchen wir Investoren aus dem In- und Ausland.“ Auf einer höheren Konkretionsstufe bewegt sich der CDU-Politiker selten — seine Person scheint Programm genug.

Warum auch nicht? Politische Konzepte sind rar oder unbekannt. Aber verkörpert der schnieke „sehr verehrter Herr Minister“ auf dem Podium nicht ganz konkret die Möglichkeit des Auswegs aus dem Tohuwabohu? Mindestens die Möglichkeit des Aufstiegs — vom Melkschemel auf den Ministersessel. Es klingt einfach: „Den Reichtum, den wir schaffen, müssen wir aus eigner Kraft schaffen und deshalb die Zähne zusammenbeißen, Ärmel aufkrempeln und hart arbeiten.“ Diestel hat diese Phase schon hinter sich. Nur mit dem Finger mußte er schnippen, um für 193.000 Mark aus dem Fundus des Innenministeriums eine millionenschwere Villa nebst Grundstück am Zeuthener See zu ergattern. Das hat sich bis Luckenwalde noch nicht herumgesprochen.

ZeuthenerInnen demonstrierten vor dem legal erworbenen Domizil. Sie amüsieren sich, daß die künftige Nachbarsfamilie eine „gegen neugierige Blicke“ um das Anwesen illegal errichtete Mauer wieder abreißen lassen muß. Der Rest der untergehenden Republik, die sich vor Monaten das Maul wegen der Wandlitz- Siedlung und dann später wegen Wohnungsschiebereien der Übergangsregierung zerriß, ignoriert den Fall. Sicher, es ist eine von Diestels kleineren Unverfrorenheiten und die BürgerInnen drücken schließlich ganz andere Sorgen und Nöte. Gleichwohl verblüfft die Nonchalance, mit der die Öffentlichkeit das mindestens anrüchige Verhalten des Innenministers quittiert. Oder zollt die Mehrheit dem Mann, der sich blitzschnell nicht nur den Ost-Chic ab- und den West-Chic überstreifte, stille Bewunderung für seine rasche Anpassung an die Gewohnheiten der (westdeutschen) herrschenden Klasse?

So schnell, instinktiv und erfolgreich wie Diestel hat sich kein anderer DDR-Politiker nach vorne geschoben. Programmatisch diffus, aber eindeutig nach Westen orientiert, gründete er mit dem Pfarrer Ebeling das politische Sammelsurium DSU zu einer Zeit, als die West- CDU sich zierte, die östliche Blockpartei unter ihre Fittiche zu nehmen. „Ein Engagement bei der SPD verbot sich für Diestel nur wegen ihres Hangs zur Zweistaatlichkeit und ihrer Gespräche mit dem Regime“, erinnert sich ein Wegbegleiter an winterliche Diskussionen. Diestel selbst rechnet sich zu den Konservativen. Von Günther Gaus um eine Definition von Konservativismus gebeten, seicht er über den Bildschirm: „Ich muß Ihnen sagen, Herr Gaus, darauf kann ich keine wissenschaftlich ausgewogene Antwort geben. Für mich bedeutet es das Festhalten an Grundsätzen, die in allen Demokratien akzeptiert werden und denen ich dienen will.“ Diese Nullnummer leistete sich Diestel vor einigen Wochen im Fernsehen. Damals war er bereits wegen „rechtsradikaler Tendenzen der DSU“ — die Kommunalwahlen hatten die Partei zur knapp Drei-Prozent-Splitterpartei degradiert — zur CDU gewechselt. Den Übertritt begründet der Konvertit gern mit „unmittelbaren Erfahrungen über die Veränderung der CDU“. Wo hat er die bloß her? In seiner nächsten Umgebung, dem Kabinett, gibt (gab) es keinen wichtigen Minister oder Staatssekretär mit CDU-Ticket, der nicht auf eine jahrelange Funktionärstätigkeit zurückblicken kann.

„Diestel bewegt sich zwischen linker CDU und rechter Sozialdemokratie“, sagt ein CDU-Fraktionskollege aus der Volkskammer. Flügelbezeichnungen, die auf bundesrepublikanische Parteien zugeschnitten sind, auf die konturenlosen DDR- Parteien aber wenig zutreffen. Richtiger hält ein Abgeordneter vom Bündnis 90 „die politische Kompatibilität“ für Diestels „hervorstechendstes Merkmal“. Auch das widerspricht keineswegs der Gemütslage vieler harmoniebewußter — weil gewöhnter — DDR-BürgerInnen. Gelegentlich kultiviert Diestel dieses Image. Auf die Frage, ob es einen einzigen Punkt im Brandenburger CDU-Wahlprogramm gebe, den SPD oder selbst die PDS nicht unterschreiben könnten, antwortete der rechte Spitzenkandidat: „Wenn drei Bauingenieure vor einem eingestürzten Haus stehen, einer von der CDU, einer von der SPD und einer von der PDS, werden alle drei sagen: Das müssen wir wieder aufbauen. Vielleicht unterscheiden sie sich in der Dachkonstruktion“. Und er freut sich sichtlich über seine Gewieftheit. SPD-Parteichef Thierse liegt falsch, wenn er Diestel einen „gesinnungslosen Realpolitiker“ nennt. Selbst Realpolitik setzt ein Minimum an eigenen Ideen und Gestaltungskraft voraus.

„Kontrolle ist gut, Vertrauen besser“

Innenminister Diestel, angetreten, um die Stasi aufzulösen, schlug gewaltig Schaum, wollte „die Apparate zerschlagen“ — und entmachtete doch nur die Bürgerkomitees. Zum optischen Ausgleich berief er namhafte alte Männer in die Regierungskommission, die ihn beim Ausmisten und Aufräumen beraten sollten. Die Gruppe produzierte aber bis zu ihrem Abschied in der vergangenen Woche nichts als dünne Papiere.

Immerhin demonstrierte die Berufung dieser Kommission und mehr noch das dem Minister unmittelbar unterstellte „Staatliche Komitee zur Auflösung des MfS/ANS“ anfangs noch, daß der Minister scheinbar begriffen hatte, daß die Exekutive für die eigentliche Auflösung der Stasi verantwortlich ist und der Volkskammer-Sonderauschuß diesen Prozeß zu kontrollieren hat. Ein Grundsatz, der zum Einmaleins der parlamentarischen Demokratie gehört, in den Wirren des Frühsommers indes untergegangen ist.

Obwohl Diestel beileibe nicht als ausgewiesener Anti-Sozialist gilt, verkehrte er gleichwohl das in Maßen bewährte Leninsche Prinzip „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“ ins Gegenteil. Namhafte Polizeichefs und SED-Kader gelangten in Schlüsselpositionen. Seine Verteidigung, er sei auf die „Fachkompetenz dieser Leute angewiesen“, könne sich schließlich „nicht von Friseuren, Bäckern oder Theologen beschützen oder beraten lassen“ ist richtig, unterschlägt indes die Notwendigkeit der Kontrolle etwa altgedienter Stasi-Offiziere. Steckt dahinter mehr als eine „DDR-typische Konfliktunfähigkeit“, die ein SPD- Parlamentarier Diestel attestiert? Er selbst zieht sich immer wieder auf das Argument zurück, er wolle „niemand nur wegen seiner Vergangenheit ausgrenzen“. Das einzige Argument, das der ansonsten gegenüber Bonner Begehrlichkeiten und Personalplänen wachsweiche Minister seit Monaten durchhält — und die Sympathiewerte auch bei Kritikern steigen läßt.

Über handfeste Behinderungen klagten die Mitglieder des Sonderausschusses. Doch sie ließen sich, wie einer rückschauend zusammenfaßt, „immer wieder vom Minister einseifen und zur Zurückhaltung bewegen“. Der Kragen platzte ihnen erst während der Volkskammerdebatte um Diestels Abberufung. Der aber verfolgte das absurde Spektakel ohne sichtliche Regungen. Auch im Augenblick größter Gefahr für seine politische Karriere blieb Diestels Gesicht leer und maskenhaft — wie immer.

Es kracht in der Partei

Trotz seines Erfolges in der Volkskammer rumort es in Diestels Parteibasis. Im ehemaligen „Haus der deutsch-sowjetischen Freundschaft“ in Potsdam geizen die 44 Brandenburger Kandidaten zunächst mit Beifall. Die Landespartei hat ihn ohnehin hauptsächlich deshalb mit 93 Prozent der Stimmen zum Anwärter für den Posten des Ministerpräsidenten gewählt, weil „auf Landesebene überall die personelle Leere gähnt und Westimporte nicht mehr so gut ankommen bei der Bevölkerung“ sagt ein Delegierter. Nach den neuerlichen Vorwürfen gegen Diestel krachte es in der Partei. Auf der Potsdamer Versammlung mußte er sich anhören „daß die Leute in den Betrieb sagen, sie wählen die CDU nicht wegen Diestel“, berichtet einer der „für die CDU aber nicht für Diestel Wahlkampf machen will“. Doch am Tag danach gerät der Kritiker von der Basis fast ins Schwärmen: „Jetzt halte ich Herrn Minister Diestel doch für ehrlich. Ich habe ja nicht gewußt, daß nicht der Minister sondern der Sonderausschuß für die Auflösung der Stasi zuständig ist“. So einfach ist das — und so kompliziert mit der parlamentarischen Demokratie. Die Versammlung endet mit der Bitte an den Spitzenkandidaten „sich dem Bürger zu erklären, weil er auf Menschen wirkt“. Er müsse die Vorwürfe sachlich korrigieren und das „mit persönlicher Präsentation untersetzen“, sagt sein neuer Anhänger, ein junger Selbständiger. „Nur wir DDR-Bürger können das beurteilen“, bilanziert er Diestels Regierungstätigkeit. „Er hätte die Sense schwingen können, aber dann hätte es Mord und Totschlag gegeben“. Da muß jede noch so leise Nachfrage der Westlerin verstummen.