„Genosse Lafontaine“

■ Der Kandidat beim UdSSR-Radikalreformer Schatalin

Ein Treffen der besonderen Art: Kanzlerkandidat Oskar Lafontaine bei dem sowjetischen Propheten der freien Marktwirtschaft Stanislaw Schatalin. In einem winzigen Zimmer der SPD-nahen Friedrich- Ebert-Stiftung in Moskau traf sich der Erfinder des Programms „In 500 Tagen zur Marktwirtschaft“, Stanislaw Schatalin, vergangenes Wochenende mit Oskar Lafontaine. Eine Diskussion kam nicht zustande, da Schatalin, ein schmächtiger alter Mann mit schütterem Haar, einen Monolog hielt. Offensichtlich interessierte er sich keinen Deut für die Fragen und Einwürfe seines Gesprächspartners.

Dennoch war Lafontaine nach dem Gespräch begeistert von seinem Gegenüber, bei dem er sozialdemokratische Gedanken zu entdecken glaubte. Schatalin, der Mitglied der KPDSU ist, bezeichnete sich als Sozialdemokrat und sprach den Saarländer mit „Genosse Lafontaine“ an. Besonders seine Idee von der „Souveränität des Einzelnen“ und sein Ruf nach dem „starken Mann an der Spitze“ fanden Lafontaines Zustimmung. Daß das eine mit dem anderen in Widerspruch stehen kann, vermochten beide nicht zu erkennen.

Schatalin berichtete dem Deutschen von den zentralen Ideen seines Planes: Pluralismus des Eigentums, also Privatisierung und Entstaatlichung; souveräne Republiken, deren Gesetze Vorrang haben vor denen des Zentralstaates; Einführung von Bundes- und Ländersteuern. Das alles, so Schatalin, sei eben nur mit starker Macht durchzusetzen. Er fordere deshalb strenge Vollmachten für den Präsidenten. Und der Saarländer stimmte ihm zu: „Dafür brauchen Sie einen Herkules.“

Mit der Marktwirtschaft sei das so eine Sache, meinte Schatalin. Wer in Moskau ein Devisen-Restaurant eröffne, müsse jede Menge Abgaben an die Mafia bezahlen. Diese Ausgaben schlage er dann auf die Preise auf. Deshalb sei im Kapitalismus auch alles so teuer. Lafontaine reagierte verständnislos auf Schatalins Version von der freien Marktwirtschaft: „Wir wollen doch kein Restaurant in Moskau aufmachen“, ulkte er.

Am Ende seines Monologs erklomm Schatalin philosophische Höhen: „Wir reden von der Souveränitat der Staaten, der Kreise, der Städte und der Straßen“, sinnierte er, aber keiner rede von der „Souveränität des Einzelnen“. Es sei ein historischer Fehler gewesen, „das Wort Wir vor das Wort Ich zu stellen“. Da er sein Programm nicht scheitern lassen wolle, habe er jedoch den Punkt ausgeklammert: „Wenn wir geschrieben hätten, wir gehen von der Souveränität des Einzelnen aus, dann hätte uns niemand verstanden.“ Oskar Lafontaine hakte ein: „Aber genau das ist doch der archimedische Punkt.“

Nach dem Gespräch schwärmte er: „Schatalin muß Sartre und Camus gelesen haben.“ Die beiden hätten sich darüber gestritten, ob das Wir vor dem Ich stehe. Camus habe für die Eigenständigkeit und Selbstverantwortung des Einzelnen plädiert — deshalb sei er auch sein Lieblingsschriftsteller. „Bei den Sozialdemokraten“, lamentierte Lafontaine, „spielt dieses Denken immer noch eine viel zu geringe Rolle.“ Verbreitet sei nach wie vor eine „Verteilungsmentalität“, die dem Staat alle Verantwortung zuschiebe. Tina Stadlmayer