„Noch geben wir nicht auf“

Das Berufsbildungssystem wird umstrukturiert/ Bei der Berliner „Rudi Arndt“-Berufsschule macht man sich Sorgen/ Die Betriebe schicken weniger Lehrlinge, die Aufträge bleiben aus  ■ Aus Berlin Karin Mayer

Ein altes Fabrikgebäude im Zentrum von Ost-Berlin, in dem vor dem Krieg Flugzeugmotoren gebaut wurden. Schmiedeeiserne Buchstaben über dem Gitter an der Einfahrt schreiben: Rudi Arndt, der Name der Betriebsberufsschule des Druckzentrums Berlin. Hier werden seit Anfang der 50er Jahre die Drucker und Setzer, Layouter und Buchbinder für alle Druckereien Berlins und den Norden der DDR ausgebildet.

Neben dem Gitter, das Pförtnerhäuschen: „Gerade war ein Herr da, der hier im Krieg gearbeitet hat und es seiner Tochter zeigen wollte.“ Im hinteren Flügel hätte damals eine Bombe eingeschlagen, so erzählt der Besucher. Das Gebäude hat viele Geschichten, die Gegenwart droht auch zur Geschichte zu werden: Im Fabrikgebäude sind der praktische und theoretische Ausbildungsbereich untergebracht. Die Praxis-Ausbilder sind Angestellte des Druckzentrums Berlin, der Druckerei des 'Neuen Deutschland‘. Die Theorie-Lehrer werden von der Kommune bezahlt. Seit dem 1.September ist die Kommune gemäß dem Bundesausbildungsgesetz Eigentümerin eines Gebäudeteils.

Das Berufsbildungssystem der DDR ist ins Wanken geraten. Vor allem große Betriebe besitzen eigene Schulen, in denen sie ihre Lehrlinge unterrichten. Ab 1990 gilt das duale System mit kommunalen Berufsschulen und betrieblicher Ausbildung in der DDR.

„In den ersten Monaten haben wir viel davon gesprochen, das Positive aus der DDR mit in die Vereinigung einzubringen“ — inzwischen hat sich Schulleiter Claus Fechner das abgeschminkt. Positiv findet er zum Beispiel „die Verantwortung fürs Produkt und die erzieherische Wirksamkeit“ des DDR-Systems. Aber 40 Jahre erfolgreiche Berufsausbildung in der Bundesrepublik seien eben Rechtfertigung dafür, daß nur einer von beiden Staaten bestimmt, wie es weitergeht. Flechners Verbitterung ist nicht zu überhören. Kein Wunder: Der Leiter ist mit seiner Schule und dem Uraltgebäude seit 37 Jahren verwachsen. Als Buchdruckerlehrling kam er in die Michael-Kirch-Straße im Zentrum Ost-Berlins. Die Potsdamer Tageszeitung 'Märkische Volksstimme‘ schickte ihn in die Hauptstadt, vier Jahre später wurde Fechner Lehrausbilder für Buchdruck an der Schule, die den Namen eines jüdischen Buchdruckers trägt. Seither liest sich Fechners Lebenslauf wie eine Reise durch die Bildungs- und Fortbildungsanstalten der DDR: Buchdruckerlehre, Meisterausbildung, Ingenieur für Polygraphie und Diplompädagoge im Fernstudium neben der Schulleiterstelle. In seinem Büro im 3.Stock, wo Drucke seiner Schüler die Wände schmücken, ist Fechner zu Hause und umgänglich.

Mehr als kollegial und solidarischer als im Westen ist die Atmosphäre im alten Fabrikgebäude. Beim Rundgang im Betrieb begrüßt man sich mit Vornamen, fragt nach dem Befinden, jammert ein bißchen. Die Nostalgie wächst, je unsicherer die Zukunft ist. Denn die Sorgen sind groß: Jedes Jahr sind 180 neue Lehrlinge in der Berufsbildungsschule Rudi Arndt angetreten. Im September kamen nur 135. Das Druckhaus Berlin Mitte bildet seine Lehrlinge selbst aus und schickt sie nach bundesrepublikanischem Vorbild nur noch in den theoretischen Unterricht. „Das schlimmste ist, wenn die Betriebe keine Lehrlinge mehr schicken“, sagt Fechner. Für viele eine Kostenfrage, denn jeder Betrieb muß zwischen 17.000 und 20.000 Mark pro Kopf und pro Jahr für einen Lehrling bezahlen. Den Rest, ungefähr noch mal soviel, erwirtschafteten bisher die Lehrlinge selbst, indem sie Einschlagpapier für Ostberliner Kaufhallen mit Blümchen bedruckten. Aber die Auftragslage ist seit April schlecht. Die Offset- Druckmaschine im Erdgeschoß steht still, fertige Bögen hängen unbeachtet unter der Hallendecke. „Wenn wir keine Aufträge mehr haben, wird die Ausbildung für die Betriebe noch teurer, und die haben im Moment genug Probleme“, sagt Fechner schulterzuckend. Deshalb bangen 100 Rudi-Arndt-Ausbilder um ihre Arbeitsplätze, das bundesrepublikanische Ausbildungssystem macht sie überflüssig. Nur 25 Lehrer aus dem theoretischen Bereich übernimmt der Magistrat der Stadt.

Glanz vergangener Zeiten

Ohne Zweifel: Die Schule Rudi Arndt hat bessere Zeiten gesehen. Im Gang hängen die Urkunden sozialistischer Preise. „Für einen der schönsten Buchumschläge des Jahres 1984“ wurde die Schule ausgezeichnet. Vom Glanz ist wenig übriggeblieben, auch wenn die Lehrlingsgruppen noch immer die Namen von Lenin, Pablo Neruda und Karl Liebknecht tragen.

Die Backsteine an der Mauer hat die Zeit geschwärzt, im Innenhof dreht sich ein Betonmischer. Renoviert wird eigentlich ständig in der Betriebsberufsschule Rudi Arndt. Das Druckhaus Berlin hat dafür eigens einen Bauleiter angestellt, jährlich verschlingen Renovierungen 100.000 Mark. „Andere hätten unter denselben Bedingungen längst aufgegeben“, sagt Fechner nicht ohne Stolz. Der klobige Nachtspeicherofen in der Ecke des Büros ist neu. Obwohl das Heizkraftwerk quer über der Straße nur wenige Meter entfernt liegt, kämpfte die Schule seit Jahren vergeblich um einen Anschluß. Es blieb die Braunkohleheizung im Keller, die die Temperatur in den Unterrichtsräumen auf gerade 12 Grad Celsius im Winter brachte. Das Direktorenbüro war mit null Grad Spitzenreiter. Neid gegenüber dem bessergestellten Vorgesetzten kommt da nicht auf. „Lehrlinge, die das Gebäude zum ersten Mal von außen sehen, sind geschockt“, erzählt Fechner fast amüsiert. Aber innen, betont er, sei ja alles instand. Darüber läßt sich streiten: „Wir können uns nicht mit Betrieben in der BRD vergleichen“, Hans Kols ist seit 21 Jahren Lehrer der Schule. Die Maschinen sind veraltet, ob die Drucker oder Reprotechniker problemlos im Westen arbeiten könnten, kann keiner sagen. „Unsere Ausbildung ist gut“, sagt Fechner.

Was aus der Schule Rudi Arndt werden soll, weiß auch der Geschäftsführer des Druckhauses Berlin, Dieter Anschütz, nicht. „Wenn irgend möglich“, will er sie behalten, ob sich das finanzieren läßt, kann Anschütz nicht sagen. Verkaufen lasse sich das etwa 12 Millionen schwere Gebäude nicht, dafür finde sich kein Interessent. Im Druckzentrum hofft man noch, der Magistrat könnte die ganze Schule übernehmen, aber davon ist nicht die Rede.

„Wir denken daran, noch nicht aufzugeben“, ist Fechners leiser Schlachtruf. Alle DDR-Betriebe wurden gesetzlich verpflichtet, Ausbildungsverträge zu erfüllen. Im nächsten Jahr gibt es keine planmäßigen Verträge mehr, statt dessen kämpfen die Betriebe gegen Arbeitslosigkeit und drohenden Konkurs. Erst dann wird sich herausstellen, ob die Betriebsberufsschulen sich noch halten können.