Heydrichs Witwe

■ Ulrich Zaums „Liebfrauenmilch“ wurde in Tübingen uraufgeführt

Die Frau heißt Lene — eine Alte, körperlich gebeugt, aber mit unbeugsamen Willen. Im herrschaftlichen Zimmer zeugt ein wuchtiger Schreibtisch von vergangener Macht, ansonsten fehlen Insignien der Herrschaft. Etwas ist passiert. Hat der Pöbel revoltiert? Die großen Fenster sind notdürftig mit schäbigen Teppichen verhängt. Der Monolog der Frau: ein Brabbeln. Erinnerungsfetzen, die Worte formen sich erst beim Sprechen.

Wir sind auf einem Landgut, das einmal das beste Gestüt der Tschechoslowakei war. Herr Himmler kommt zu Besuch. Wenn Herr Himmler kommt, stehen sogar die Grashalme Spalier. Und dann der Mann, der den Juden bis auf die Knochen prügelte. Aber das war ein Kapo, selbst ein Jude. Und die 30 Mann aus Theresienstadt, zur Arbeit aufs Gut abkommandiert, aber keine Fachkraft darunter. Das waren die Probleme damals: keine Fachkräfte. Ansonsten hat sich Lene nichts vorzuwerfen.

Am Anfang hätte Lene noch eine von Thomas Bernhards naturgemäß- starrköpfigen Alten sein können, deren Erinnerung sich in alter Größe verhakt. Aber dann wird deutlich, um wen es geht: Um Lina Heydrich — Witwe von Reinhold Heydrich, ehedem Gestapo-Chef und Reichsprotektor von Böhmen und Mähren. In den Memoiren der Witwe findet sich jene Haltung, die Lene auf der Bühne zur Schau stellt. Die Memoiren tragen den Titel „Leben mit einem Kriegsverbrecher“ und sie enhalten keineswegs ein spätes Nachdenken der Heydrich-Witwe über die Rolle ihres Mannes in der faschistischen Mordmaschine: Angefangen von der Wannsee-Konferenz, auf der unter seinem Vorsitz die „Endlösung der Judenfrage“ beschlossen wurde, bis zur kühl-bestialischen Durchführung unter seiner Regie in der Tschechoslowakei. Wenn Lina Heydrich „Kriegsverbrecher“ schreibt, klagt sie die an, die ihn seit Ende des 2. Weltkriegs so nennen: „Was er getan hat, haben auch Männer in seinen Positionen auf der anderen Seite getan.“ Sie schrieb das 1976, heute verwüsten Skin-Neonazis jüdische Friedhöfe und plappern ähnliche Sätze vor laufenden Kameras.

In der Tübinger Uraufführung spielt Brigitte Walter eine Lene, die kaum noch gehen kann, und wenn sie es schafft, dann gebeugt, verkrampft, als ziehe ein bohrender Wille die Gestalt zusammen. Ansonsten ist nur ihre Stimme, rhythmisiert, Zäsuren setzend, lyrische Passagen nachempfindend. Der entstehende Stimmfluß ist reizvoll, und wäre nur er gewesen, man könnte von einer geglückten Uraufführung der „Liebfrauenmilch“ sprechen. Aber es ist ja Schauspiel, und das spielt in einem holzgetäfelten und scheintoten Raum, in einer Verbindungsfestung hoch über der Stadt. Den Ort wählte man auf Wunsch des Autors, der Dramaturg in Tübingen war. Man hätte es besser bleiben lassen. Denn „Liebfrauenmilch“ ist darauf aus, von der Biographie der Heydrich-Witwe weg in den Kunst- Raum eines inneren Monologs gespielt zu werden. Die Holztäfelung stört da nur. Eine entschiedenere Regie hätte vielleicht gegen den Raum arbeiten können; Günter Ballhausen tut dies nicht. Warten wir auf die zweite Inszenierung. Jürgen Berger

Ulrich Zaum: Liebfrauenmilch. Regie: Günter Ballhausen, Bild und Kostüm: Anna Eiermann; mit Brigitte Walter (Lene), Tübingen, Haus Lichtenstein

Weitere Aufführungen am: 29.9., 7., 11., 18. 10.