Rot und Schwarz

■ Herbert König inszeniert Koltès' „Roberto Zucco“ in Düsseldorf

Schwarz ist die Mauer, die den Blick auf die Bühne versperrt. Rot ist darauf der verzerrte Umriß eines menschlichen Körpers gezeichnet. Zwei Gefängnisaufseher schieben schläfrig Wache. Hoch oben auf der Mauer erscheint ein Mann, breitet die Arme aus, balanciert auf der Grenzlinie über unseren Köpfen: Roberto Zucco, der Ausbrecher, der Mörder, der Irre, der Held. Dann Sirenengeheul, Hundegekläff, Schüsse, ein gleißender Scheinwerfer blendet das Publikum. Die Tragödie nimmt ihren Lauf.

So beginnt die Düsseldorfer Inszenierung von Bernard-Marie Koltès' letztem Theaterstück. Koltès schrieb es letztes Jahr, kurz bevor er einundvierzigjährig an Aids starb. Nach der Uraufführung in Berlin wird es in dieser Spielzeit das meistgespielte neue Theaterstück sein, ein Volltreffer, ein Vermächtnis, das angenommen wird. Koltès erinnert an sich, indem er einem anderen ein Denkmal setzt. Roberto Succo war ein geistesgestörter Mörder, der sich 1988 in einem italienischen Gefängnis das Leben nahm. Dieser authentische Fall und die Gladbecker Geiselaffäre bilden den Stoff des Stückes. Koltès scheint gelungen zu sein, wovon alle Dramatiker träumen: die alltäglichen Tragödien, die auf dem Bildschirm an uns vorbeiflimmern, zu einer exemplarischen Tragödie zu verdichten, die uns erschüttert wie ein antikes Drama.

Roberto Zucco, der sechsfache Mörder ohne Motiv, das ist auch Orest, Samson, Theseus und Lohengrin. Büchners Woyzeck und Musils Moosbrugger sind seine Ahnen in der deutschen, Claudels und Genets Verbrecherhelden in der französischen Literatur. Vom Mord an der Mutter über eine Vergewaltigung, die Erschießung einer Geisel, die widerstandslose Festnahme bis zum scheiternden Ausbruchsversuch geht er seinen sinnnlosen, konsequenten Gang durch das Stück. Für sein Handeln gibt es keine Erklärung, keine Rechtfertigung, eine Tragödie ohne moralisches Urteil.

Der Regisseur Herbert König und sein Bühnenbildner Michael Simon setzen lapidare Zeichen. Rot und Schwarz sind die Farben der Bühne: Blut und Nacht, Leben und Tod. Schwarze gebogene Wände von zunehmender Höhe sind ineinandergeschalt wie ein Labyrinth, ein düsterer babylonischer Turm. Für jede neue Szene wird eine weitere Wand zur Seite geschoben. Auf jeder schwarzen Wand ist etwas Rotes dort, wo Roberto Zucco Menschen begegnet: eine rote Tür, ein rotes Fenster, eine rote Bank. Von Station zu Station zieht der reine Mörder seine Bahn ins Innere dieses Grabmonuments. Bis kurz vor der Pause die Bühne ganz offen ist und Roberto Zucco nach dem Vorblid der Gladbecker Geiselnehmer, begleitet von den Kommentaren der Passanten, ein Kind erschießt. Eine zum Würgen komische Szene.

Nach der Pause ist die Welt ganz aus den Fugen. Ein riesiges Loch klafft in der Bühne, der schwarze Schalenturm ist gedreht, geborsten und von der Hebebühne nach oben gedrückt. Dann setzt sich die Maschinerie in Bewegung, die riesigen Metallkonstruktionen der Bühne drehen und verkanten sich neu, ein Vorgang von der anonymen Aggressivität eines Panzerangriffs. In der entstandenen Unterführung erklärt Zucco seiner Geisel: Alle sind potentielle Mörder.

Die Regie läßt nichts Überflüssiges zu. Jede Bewegung, jedes Requisit ist bewußt als vieldeutiges Zeichen gesetzt. Keine Spur von Milieurealismus. Die Düsseldorfer Schauspieler führen dieses strenge Konzept mit Konzentration und Intensität aus, allen voran Sylvester Groth als Roberto Zucco. Nie gibt er sein Geheimnis preis, er bleibt ein Rätsel. Die Konsequenz dieses kargen Inszenierungsstils führt in Düsseldorf zu einer Schlußlösung, die vom Text und von der Uraufführung abweicht. In der letzten Szene steht Zucco nicht auf dem Gefängnisdach und betet die Sonne an, sondern sitzt am Rande der Bühne, stülpt sich eine Plastiktüte über den Kopf und läßt Gas in sie einströmen. Hinter ihm versinken die Bühnenaufbauten. Nur aus dem Lautsprecher hört man Zuccos Hymne an das Geschlecht der Sonne. Koltès' Apotheose des bleichen Verbrechers im Sonnenlicht wird konterkariert mit dem Ende des realen Roberto Succo. Die Inszenierung verweigert die mythologische Verklärung und bleibt beim realen Elend. So gelingt das Unwahrscheinliche: ein starkes Stück in einer noch stärkeren Inszenierung. Gerhard Preußer

Bernard-Marie Koltès: „Roberto Zucco“