Auf dem Weg zur UNO-Streitmacht

■ Eduard Schewardnadses Vorstoß auf der Sitzung des Sicherheitsrates KOMMENTAR

Vierzig Jahre lang gab es keine andere Garantie für den Weltfrieden als das Gleichgewicht des Schreckens und die Abgrenzung der Einflußsphären durch die beiden Supermächte. Ausdrücklich ging es nicht um globale Kriegsverhütung sondern um die Kontrolle das heißt Begrenzung lokaler Konflikte, die in den meisten Fällen selbst das Ergebnis der Ost-West-Konfrontation gewesen waren. Ist das Ende dieser Konfrontation gleichbedeutend mit dem Ende des Krisenmanagments durch die Supermächte? Steht uns eine Periode lang anhaltender lokaler und regionaler Kriege bevor, die von den USA und der Sowjetunion nicht angezettelt, deshalb aber auch von ihnen schwer beendet werden können? Oder könnte die einstige Rivalität um die Weltherrschaft einer Zusammenarbeit weichen, an deren Ende ein Zeitalter des Friedens stünde?

In seiner Rede vor der UNO Ende 1988 hat Gorbatschow die Vision einer Weltgesellschaft entworfen, deren Glieder sich international gültigen Rechtsnormen unterordnen. Der UNO sollten als Motor für diese „Weltgemeinschaft der Rechtsstaaten“ exekutive Vollmachten übertragen werden. Knapp zwei Jahre nach Gorbatschows denkwürdiger Rede haben die Revolutionen in Ost- und Ostmitteleuropa das Ende der sowjetischen Hegemonie über diese Region gebracht. Das Warschauer Militärbündnis kann nun nicht mehr bis zu dem Zeitpunkt durchgeschleppt werden, wo erste Institutionen eines kollektiven europäischen Sicherheitssystems begründet worden sind — es wird binnen Jahresfrist auseinanderfallen. Die von sowjetischen Militärs in Wien vorgetragenen Definitionen einer „hinreichenden Verteidigung“ geraten unter immer schärferen Beschuß der sowjetischen Öffentlichkeit, die die Ausgaben für die Rüstungsindustrie an Investitionen mißt, die keinerlei Aufschub mehr dulden. Nach dem Kollaps der Agression gegen Afghanistan ist die Bevölkerung der Sowjetunion mindestens so sensibilisiert gegenüber Militäraktionen jenseits der Grenzen wie die Amerikaner nach dem Rückzug aus Vietnam. Die sowjetische Außenpolitik steht unter Zeitdruck. Was von Gorbatschow 1988 als Projekt „mittlerer Reichweite“ vorgestellt und als utopisch belächelt worden war, wird jetzt zur Tagesaufgabe: ein Instrumentarium internationaler Konfliktregelung, daß die Immer-noch-Supermacht einerseits weltweit entlastet, ihr aber andererseits die Möglichkeiten weltweiter Einflußnahme erhält. Nur die UNO könnte ein solches Instrumentarium bereitstellen.

Unglücklicherweise hat die Golf-Krise die sowjetische UNO-Politik „auf dem falschen Fuß erwischt“. Zwar hatte Gorbatschow schon 1988 vor der Unberechenbarkeit militärischer Konflikte gewarnt. Er bemühte sogar den großen Lyriker John Donne: „Frag nicht, wem die Stunde schlägt, sie schlägt auch Dir.“ Aber das sowjetische UNO- Drehbuch sah als ersten Schritt internationale Agenturen für Abrüstung, Umweltschutz, ökonomische Entwicklung, ja sogar für Weltraumtechnologie vor, nicht aber die Bildung einer Militärstreitmacht, die in der Lage gewesen wäre, Beschlüssen des Sicherheitsrats Geltung zu verschaffen. Das lag in der Logik einer Politik, die erst einmal Not und Unterentwicklung als potentielle Ursachen für Kriege in der Dritten Welt schrittweise beseitigen wollte. Aber „das Leben“ richtet sich nun mal nicht nach strategischen Planungen. Vor die Notwendigkeit gestellt, rasch eine Alternative zu einer einseitigen Militäraktion der Westmächte anzubieten, griff die Sowjetunion auf eine alte Idee zurück: die in der UNO-Satzung vorgesehene, im Kalten Krieg mißbrauchte und dann in Vergessenheit geratene Stabsstelle beim Sicherheitsrat als mögliches Koordinierungs- und Kommandozentrum für eine bewaffnete UNO-Intervention am Golf. Dieser Vorschlag einer gemeinsamen Streitmacht verfehlte zunächst jede Wirkung, weil die Sowjetunion offenließ, ob sie sich tatsächlich an ihr beteiligen würde. Mit seiner gestrigen Rede vor dem Sicherheitsrat hat Edward Schewardnadse alle Zweifel in dieser Richtung ausgeräumt. Die Sowjetunion ist jetzt nicht mehr Vermittler, sondern Partei im Streit.

Hat Schewardnadse damit das Unwahrscheinliche vollbracht und die Sowjetunion aus einer Defensivposition in die Rolle des historischen Initiators katapultiert? Viel wird davon abhängen, ob die sowjetische Politik jetzt nur noch der Logik der Kriegsvorbereitung folgt oder ob sie weiter beharrlich nach friedlichen Lösungen als vorletztem Mittel sucht ehe sie dem letzten ihre Zustimmung gibt. Entscheidend aber wird sein, ob eine UNO-Interventionsmacht nur — um im Bild zu bleiben — den Rauchvorhang abgeben wird für die Streitkräfte der USA. In diesem Fall würde die Sowjetunion gerade mit ihrer Absicht scheitern, erstmals in der Geschichte ein allseits akzeptiertes Instrument für die Erzwingung völkerrechtskonformen Verhaltens zu schaffen. Christian Semler