Im Parteijargon: „Bauchschmerzen haben“

Über Renegatenliteratur, ihre Entstehung und ihre Nicht-Rezeption  ■ Von Horst Domdey und Michael Rohrwasser

Wann rückt der Begriff Stalinismus ins Blickfeld? Ein Exilforscher der Humboldt-Universität antwortete kürzlich auf diese Frage mit dem Hinweis auf die Bücher von Walter Janka und der Bucharina: Mit deren Lektüre habe das Thema Stalinismus für ihn erst Kontur gewonnen. Das sagt ein Literaturwisenschaftler, dessen Spezialgebiet das Exil in der UdSSR ist.

Einige Exilforscher werfen Brecht vor, er habe sich nicht um die Opfer des Stalinismus geschert. Der amerikanische Literaturwissenschaftler David Pike macht eine besonders strenge Rechnung auf, wenn er fragt, warum Brecht in den 30er Jahren nichts zur Folter in der Sowjetunion hat verlauten lassen. „Berichte darüber waren im Westen weit verbreitet.“ Womit Pike übertreibt: selbst Arthur Koestler und Manes Sperber schlossen damals aus, die Sowjetunion habe Folter als Mittel zur Erzwingung von Geständnissen benutzt. Aber natürlich stimmt es auch, daß Brecht, der in den zwanzig Jahren von 1937 bis 1956 öffentlich kein kritisches Wort zum Stalinismus gesagt hat, als Intellektueller blamiert war. Chruschtschow, der Bauer aus der Ukraine, klagte an, unter Stalin habe es Massenterror gegeben, und es sei systematisch gefoltert worden. Andere Brecht-Forscher entschuldigen ihren Autor: „Außer einigen völlig unwichtigen Grüppchen“ habe damals „übrigens niemand an der Rechtmäßigkeit der Prozesse gezweifelt“ (Peter Bormans).

Einen prägnanteren Zeitpunkt für den Beginn der Aufklärung und der Auseinandersetzung mit dem Stalinismus bildet eben jene Geheimrede Chruschtschows vom Februar 1956. Mit ihr erst seien die Verbrechen Stalins bekanntgeworden. So liest es sich beispielsweise in einer westdeutschen Feuchtwanger-Monographie. Für einige wenige Kommunisten mochte das vielleicht zutreffen. In der Regel aber steht die Geheimrede lediglich für den (schnell wieder zurückgenommenen) Beginn des Sprechens über den Stalinismus innerhalb der Partei.

Drei Beispiele für die Ausklammerung von Renegatenliteratur. Und drei Daten, an denen der Stalinismus in den Blickpunkt rückt: 1989, 1936, 1956. Aber jede dieser Jahreszahlen hat vor allem Bedeutung für den, der sich ihrer als biographische Markierung der eigenen Stalinismus-Aufarbeitung bedient. Der Begriff „Stalinismus“ wird benutzt, wenn man sich von ihm befreit glaubt: ein Hinweis darauf, daß der Begriff seltsam unhistorisch bleibt. Rückwärts gesehen: Die Stalinismuskritik und der Stalinismus sind schwer zu trennen von der Kritik der Sowjetunion unter Lenin und dem Leninismus. Nach vorne: Gerade in der DDR heute hat der Name „Stalinismus“ magische Qualitäten gewonnen. Mit ihm scheint alles erklärbar zu werden: das System, sein Funktionieren, die Karrieren und die Apparate, das Gehorchen wie die Unterwanderung der schwachen Opposition. „Stalinismus“ ist zu einem Befreiungswort geworden. „Wir sind alle Kinder des Stalinismus“. Inzwischen, ein Jahr älter geworden, sind alle Antistalinisten.

Die Renegatenliteratur wird ignoriert

Auch erlaubt ein solcher Gebrauch des Wortes Stalinismus, sich den Sozialismus als Traum zu erhalten. Nur dessen pervertierte Form scheitere jetzt. Womit der Genesung also nichts im Wege steht.

Was mit der Enthistorisierung des Begriffs verloren geht, ist der Blick auf die Tradition der Renegatenliteratur — die literarischen oder publizistischen Zeugnisse jener Exkommunisten, die erzwungen oder freiwillig ihre Partei verließen und im Gegensatz zu ihren kirchlichen Vorläufern, den Ketzern und Apostaten, ihren Abfall dokumentierten, publizierten, zur Diskussion stellten. Ob Renegatentexte oder Stimmen innerparteilicher Kritiker, ob Attacken im Glauben an einen besseren Sozialismus oder Polemiken angesichts eines „verbrannten Dornbuschs“, ihre Namen sind Legion. Ein Bruchteil der Anti-Stalin-Literatur vor der Chruschtschtow-Rede sei genannt: Gorkis Angriffe gegen Lenin, Isaak Steinbergs „Gewalt und Terror in der Revolution“, Boris Souvarines Rußlandbuch und Stalinbiographie, Victor Serges Arbeiten aus den zwanziger und dreißiger Jahren, Panait Istratis Reisebericht von 1930 und der sechs Jahre spätere von Andre Gide, die brillante Analyse des ersten Moskauer Schauprozesses von Willi Schlamm („Diktatur der Lüge“, 1937), die Aufsätze von Leopold Schwarzschild, Erich Andermann, Kurt Hiller und anderen in der Exilzeitschrift „Neues Tage-Buch“, die Analysen Willi Münzbergs und Manes Sperbers in der „Zukunft“, Arthur Koestlers Roman „Darkness at Noon“ („Sonnenfinsternis“), die Komintern-Epen von Sperber und Richard Krebs, Silones „Notausgang“ und „Wilde Brombeeren“, Trotzkis Stalinismus-Analysen und die historischen Arbeiten Franz Borkenaus und Ruth Fischers, nicht zuletzt die Berichte aus russischen Lagern und Gefängnissen von Joseph Scholmer bis Alexander Weißberg- Cybulski, von Waltraut Nicolas bis Margarete Buber-Neumann, Elinor Lipper und Susanne Leonhard.

Berührungsangst vor dem Renegaten bei der Neuen Linken

Brecht hat einige dieser Bücher gelesen. Auch unser Exilliteraturforscher hat gewiß einige davon zur Kenntnis genommen, aber es war eine spezifische, nach außen folgenlose Rezeption. Während die Publikation von Solschenizyns „Archipel Gulag“ das Bild der französischen Linken verändert, hinterläßt die Renegatenliteratur wenig Spuren in der westdeutschen Linken. Man liest Koestler, Glaser, Sperber, Silone gleichsam politisch „privat“, mit der Abwehr einer reservatio mentalis, läßt sich von ihnen nicht die Träume kaputtmachen. Man ignoriert die historische Erfahrung, die in der Literatur der Renegaten dokumentiert ist. Desillusionierung wird nur dosiert zugelassen. Renegatenliteratur fällt bei den Linken unter jenes Verdikt des „professionellen Antikommunismus“, der als ideologisches Instrument des Nationalsozialismus und des Kalten Krieges erkannt worden war. Kritik am Stalinismus erscheint wie ein antikommunistisch geprägter, also manipulierter Erfahrungsbericht. Die Renegatenliteratur wird deshalb auch nicht im Kontext der Exilliteratur rezipiert.

Man meidet die Diskussion mit jenen Zeitzeugen der Stalinzeit, die dem Spektakel der Neuen Linken neugierig zuschauten. Manes Sperber und Georg Glaser waren Beobachter des Pariser Mai '68, Karl Retzlaw und Heinz Brandt der Studentenbewegung in Westdeutschland. Befragt wurden sie nach ihren Stalinismuserfahrungen kaum. Hinter den scharfen Äußerungen Sperbers oder Glasers zur Revolte von '68 steht die Verbitterung, daß ihre Erfahrungen von einer geschichtsblinden Generation erneut ignoriert werden. Erst als Rudi Dutschke 1975 den rowohlt-Band „Die Sowjetunion, Solschenizyn und die westliche Linke“ herausgibt und dabei bewußt den Vorwurf des Antisowjetismus in Kauf nimmt, ist eine Bresche geschlagen, wird es möglich, die Angst vor dem Beifall von der falschen Seite als das Hemmnis abzuwehren, stalinistische Strukturen zu kritisieren. Die Rezeption der Renegatenliteratur bleibt aber an das Konzept eines Reformsozialismus gebunden.

Stalinismus als sacrificium intellectum

„Daß Du Deine vielleicht berechtigte Kritik gerade heute, in dieser Situation veröffentlichst, ist Verrat“ — eine Stereotype, wie sie nicht erst Walter Janka von seinen Genossen zu hören bekam. Natürlich ist die Lage stets kritisch und verbietet, „gerade jetzt“ Wasser auf die Mühlen des Feindes zu leiten. Jede Kritik an Stalin war eine Schwächung der antifaschistischen Front, war Unterstützung Hitlers, und galt deshalb als Verrat, Fahnenflucht, Desertion. Aus jeder Kritik hörte man Stimme eines Feinds, und der innerparteiliche Kritiker wurde zum Renegaten gestempelt: Wer sich zur Kritik entschließt, nähert sich dem verfemten „Renegaten- und Dissidentenpack“. Man schlägt auf die Renegaten ein, um die eigenen Zweifel zu bekämpfen. Renegatentadel war ja vornehmlich eine Aufgabe der Parteiintellektuellen.

Über den Stalinismus nachzudenken und stumm zu bleiben, das hieß im Parteijargon „Bauchschmerzen haben“. „Wir mußten Dreck fressen“, sagten die Emigranten. Thomas Brasch greift 1977, nach seiner Übersiedlung in den Westen, diese Metapher auf und pointiert in ihr den Bruch mit der Bereitschaft zum sacrificium: „Da geht Eulenspiegel in die Mitte des Saales und scheißt einen Haufen hin. Er teilt ihn in zwei Hälften und frißt die eine. Er fordert den Narren des Landgrafen auf, es ihm nachzutun, dann will er auch von seinem Haufen die Hälfte fressen. Der Narr gibt auf: Lieber will er den Rest seines Lebens nackt gehen, als Scheiße fressen. Eulenspiegel behält seine Anstellung und sein Gegner wird auf die Straße geworfen.“ Das ist die Sprache des Renegaten, der einen Punkt setzt, das Vasallenhafte an der Loyalität ins Bewußtsein hebt und die kritisch-loyale Haltung gegenüber dem Parteifürsten als Falle erkennt.

Renegat — ein verschwundener Begriff

Der Begriff „Renegat“ wird in den siebziger Jahren stillschweigend zu den Akten gelegt. Er war ein Kampfbegriff, von Anfang an mit der Wucht der Diffamierung aufgeladen. Lenin spricht, gegenüber der Attribuierung unter Stalin noch zurückhaltend, von „abscheulichem Renegatengesindel“. Der Begriff wurde ohne differenzierende Intonation verwendet: ob Trotzki, Tito, Slansky, Rajk oder Ernst Glaeser und Gustav Regler, sogar Hans Eislers Faust-Figur: Sie alle sind Renegaten. Der Renegat erscheint als ein Monster, dem keine Wandlung zugesprochen wird: Er war schon immer der Judas, der jetzt die Maske von Gesicht nimmt oder der entlarvt wird. Seine Vorgeschichte wird aus den Annalen der Partei, frühere Texte werden aus den Bibliotheken entfernt, und auf den Fotos wird sein Gesicht getilgt.

Die diffamierende Kraft des Wortes ist so stark, daß trotz der Vielzahl der Betroffenen nicht der simple Kern des Vorwurfs gesehen wird: Bruch der Parteidisziplin. Es ist schwer, Renegat zu werden, weil man die eigenen Zweifel an denen bekämpft, die sie laut aussprechen. Deshalb wächst der Graben zum „Renegatengesindel“ in jeder Kommunistengeneration neu.

In der DDR der siebziger Jahre werden jedoch frühere Texte von Abtrünnigen wieder publizierbar, ihre Namen werden genannt. Heinz Kannitzer kann sich an seine ehemaligen Freunde erinnern und von „Mitgefühl“ sprechen. Das Metaphernfeld „Familie“ gewinnt an Kraft, und der Aussteiger erscheint als enfant perdu. Der überstarke Begriff Renegat trifft nicht mehr, er wird vermieden, und wo die Abgrenzung weiterhin scharf gezogen werden soll — wie im Fall Reiner Kunze zum Beispiel — ist unter den Reformsozialisten die Rede von „Dissidentenscheiß“. Daß die wichtigsten Vokabeln kommunistischer Denunziationspraxis, „Renegat“ und „Antikommunist“, an bannender Kraft verlieren, ist Symptom für die zunehmende Entmystifizierung des Sozialismus selbst.

Bahro: Der Renegat als Reformator

In der Frontstellung gegenüber der Bundesrepublik müsse der linke Intellektuelle den schlechten Zustand des realen Sozialismus akzeptieren, bei aller Kritik im einzelnen. Gegen dieses Diktum einer vorgeblich „alternativlosen Struktur“ publiziert Rudolf Bahro 1977 „Die Alternative. Zur Kritik des real existierenden Sozialismus“. Sozialisten wie Biermann, Havemann und Dutschke hatten das Terrain abgesteckt. Der undogmatisch sozialistische Renegat ist jetzt gefragt, der die Stalinismuskritik zum Reformsozialismus weiterentwickelt. Ältere Renegatenliteratur dagegen, die oft im Sozialismuszweifel verharrt, wird weiterhin nur peripher rezipiert.

Bahro zerbricht die Falle der revolutionären Geduld und bringt das aktuelle Bedürfnis auf den Begriff: „Ob nun Luther von ,des Teufels Sau, dem Papst‘ spricht oder Trotzki von Stalin als dem ,Totengräber der Revolution‘ [...] Entscheidend ist die Intention solcher Reformationsbewegungen, die Idee wieder von dem sie pervertierenden Machtapparat zu trennen.“ Und dann folgt, was die Kühnheit Bahros, solche Sätze 1976 drucken zu lassen, plausibel macht: „Von einem höheren Standpunkt aus kann man sich auch heute auf diesen Mechanismus verlassen.“ Ein Irrtum — wie wir heute wissen —, geschuldet der Epochenillusion, es gäbe eine Alternative zum Weltmarkt. Luthers Erfolgskonzept, als Ketzer die Lehre wiederherzustellen, ist für den Sozialismus nicht wiederholbar.

Die radikale Kritik am realen Sozialismus bleibt aber Bahros Leistung. Er ließ sich nicht wie die anderen Kritiker in der DDR zum Renegaten machen, sondern akzeptierte die Ketzerrolle als notwendig (mit Haft und Verurteilung als Staatsfeind), um überhaupt klar denken und formulieren zu können. Bahro teilt Biermanns Hohn — „das Kollektiv liegt schief“ — und verbindet dieses Selbstbewußtsein mit der Kompetenz des Systemkritikers.

Einfühlung in den Renegaten seit Prag '68

Seit dem Einmarsch in Prag stellt sich die Frage nach der Wirkung des Renegaten in neuer Schärfe. Er will den Sozialismus reformieren — aber kommt es nicht tatsächlich dann so, daß seine Reform den Sozialismus unterminiert? Das ist der Verdacht stalinistischer Führungskader seit dem 17.Juni. Mit dem Nachdruck der Panzer wird der Verdacht im August '68 gegen Dubceck erneuert. ('89/'90 hat gezeigt, daß die Panzerkommunisten insofern immer die Realisten waren.)

Seitdem steht die Literatur in der DDR in dem Widerspruch zwischen Machterhalt und Reform. Renegatenfiguren, von Luxemburg, Bloch und Hölderlin inspiriert, haben Konjunktur. Der Renegat wird zwar weiterhin als der Dissident moralisch destruiert, in ihn wird aber immer stärker auch die eigene Rolle erkannt und abgewehrt. Die Figur wird differenzierter wahrgenommen, und die Autoren imaginieren des Wechselspiel von Täter und Opfer: empathisch bei Hermlin („diese Minister haben Ekel und Verzweiflung gekannt [...] es graute ihnen vor diesen Naturen, die so empfindlich waren wie der hier“ [„Scardanelli“]) oder den Widerspruch ins Extrem treibend wie bei Heiner Müller („meine Rollen sind Speichel und Spucknapf“ [„Hamletmaschine“]). Erich Loests „Durch die Erde ein Riß“ wird 1981 zur Pflichtlektüre jedes Intellektuellen in der DDR, Christa Wolf wählt Mitte der achtziger Jahre Thomas Brasch zum neuen Träger des Kleistpreises, und sie hält die Laudatio. Der Renegat avanciert zum heimlichen Verbündeten für den Dritten Weg eines Reformsozialismus.

Der DDR-Schriftsteller steht auf der Seite der Reform, aber er ahnt, wenn er auf Polen, die CSSR und Ungarn blickt, wohin die Reform treibt. Um der Demokratie willen den Sozialismus aufgeben? Solche Position erscheint bedrohlich und wird als Verrat an der Utopie abgewehrt. Denn der Sozialismus mag seiner Erscheinung nach Diktatur sein, im Blick auf die Zukunft gilt er als die wahre Demokratie. Solidarnosc, Solschenizyn, György Konrad, Kohout oder Vaclav Havel bleiben unter linken DDR-Intellektuellen also weiterhin suspekt.

Selbstblockierung der Kritik

Die Lage zwischen dem Glauben, Sozialismus sei demokratisch reformierbar, und dem Mißtrauen, die Bevölkerung würde vielleicht lieber freie Wahlen haben wollen (kein Schriftsteller in der DDR hat freie Wahlen gefordert), die Lage also zwischen Reformsozialismus und Machterhalt erscheint der älteren Schriftstellergeneration schließlich als auswegslos. Ihre Kritik an der Machtausübung verschärft sich, bleibt aber in einer Art Selbstblockierung befangen. Christa Wolfs autobiographische Erzählung „Was bleibt“, ein Bericht über die offene Dauerbespitzelung durch den Staatssicherheitsdienst („Angst“ und „Entwürdigung“ sind die Stichworte), wird erst 1990 publiziert. „Was bleibt“ bleibt zehn Jahre in der Schublade.

Öffentlich artikuliert Christa Wolf die Kritik an dem systematischen Aufbau des Staatssicherheitsdienstes in der literarischen Form der Allegorie. Gegen die selbstbetrügerische These einer relativen Verselbständigung des Stasi („Wenn das der Führer wüßte“) hält sie in „Kassandra“ an dem Bild fest, daß Priamus und Eumelos zum unzertrennlichen Paar werden. Wolfs Kritik an der Stasi-Praxis zielt also durchaus auf die Partei. Die Enttäuschung über diese Erkenntnis erscheint als der Prozeß der Verwandlung vom guten König zum schlechten (eine Darstellung, die allerdings die Herkunft der SED aus dem Stalinismus außer acht läßt.) Aber wie in Christoph Heins „Ritter der Tafelrunde“ ist die Königsfigur weniger reales Abbild, sondern vor allem Projektion. Noch einmal wird der Tagtraum durchgespielt, unter einer Diktatur sei menschenfreundliche Herrschaft möglich — wenn nur die Machtelite unter sich Demokratie übt und von der Utopie inspiriert bliebe.

Allerdings wird diese Projektion —so tief reicht die Desillusionierung— im Gestus des Abschiednehmens ausgestellt, nicht als ein Modell, das wiederbelebt werden könnte. Und Christa Wolf geht 1983 noch einen entscheidenden Schritt weiter. In der Figur der Kassandra wird ausphantasiert, wie die Heldin gegenüber Staat und Familie einen Prozeß zunehmender Entloyalisierung vorantreibt. Wolf spielt mit der Annäherung an den Renegaten — in der Fiktion, als Allegorie. In dem begleitenden Essay „Voraussetzungen einer Erzählung“ tritt diese DDR-spezifische Gesellschaftkritik allerdings zugunsten der allgemeinen Zivilisationskritik in den Hintergrund.

Melancholische Geschlossenheit (statt der ideologischen)

Eines der Merkmale, die den Stalinismus kennzeichnen, ist die ideologische Geschlossenheit. Sie löst sich im Lauf der siebziger und achtziger Jahre auf. Der Beitrag der Literatur zu dieser Auflösung ist bedeutend, auch wenn durch Gefängnis und Ausbürgerung immer wieder versucht wird, die ideologische Einheit zu retten. Der Zersetzungseffekt des Renegaten dominiert jetzt gegenüber dessen Sündenbockfunktion, die der Abgrenzung gegen Feinde und dem Zusammenhalt des Kollektivs dienen soll.

Die Struktur der Geschlossenheit wurde jedoch früher nicht nur als bedrückende Enge erlebt, sie bot auch die Geborgenheit eines gemeinsamen antifaschistischen Erfahrungs- und Interpretationsraums, der weit in die Vergangenheit zurückreicht. Weimarer Republik, Exil, die Anfänge in der DDR gehören dazu.

Die Familie zusammenhalten! Diese Rolle übernehmen in den achtziger Jahren noch einmal die älteren, sich dem Sozialismus verpflichtet wissenden Schriftsteller — nicht, indem sie die vergangene Einheit als Ideologie beschwören, sondern indem sie Bilder gemeinsamen Schmerzes entwerfen. Das Leiden an der schlechten sozialistischen Wirklichkeit bezieht alle ein, die alten Ritter und die jungen, auch jeden Priamus und Artus. Es dämmert die Erkenntnis auf, man hätte womöglich die Epochenschwelle gar nicht überschritten, wie doch der Sozialismus vorgibt, der sich „Übergangsgesellschaft“ nennt ( ein Epochenbegriff, den Volker Braun ironisch als Dramentitel wählt). Und der Schmerz über den jetzt drohenden Utopieverlust verstärkt noch einmal die alte Angst, Renegat zu werden, und führt zum gelähmten Engagement, stabilisiert die Selbstblockierung ihrer Kritik. Die Literatur leistet in der zunehmenden Desillusionierung eine Trauerarbeit, die schlecht gelingt, weil sie den Abschied nicht wollen kann und an dem Verlustschmerz als letzter Einheit festhält. Die Desillusionierung und damit die Infragestellung des Sozialismusprojekts, die die DDR-Literatur in den achtziger Jahren ahnt und fürchtet, läßt noch einmal das Traumbild einer ursprünglichen Geschlossenheit aufscheinen — in dem Gestus einer einheitsstiftenden Melancholie. Die Linke im Westen wird dabei mitbedient.

„Ich will den Kreuzstab gerne tragen“

In der Kassandra-Figur wird die Möglichkeit beschworen, die Entwürdigung zu überbieten in der Bereitschaft zu Leiden und Tod. Protestantische Traditionen sind in der Figur lebendig: Leiden als Identitätsgewinn. Kassandra trägt Züge einer weiblichen Christusfigur, die stellvertretend für viele die Fehler der Gesellschaftsordnung erkennt, konsequent den Weg der Rebellion geht, aber nicht nur die Strafmaßnahmen von Familie und Staat auf sich nimmt, sondern vor allem auch die inneren Schmerzen dessen, der Renegat wird. In der Figur wird der Trennungsschmerz in der Hinnahme des Leidens produktiv gemacht und die Leidensbereitschaft auf ein neues kollektives Subjekt, auf die kleine Reformelite außerhalb der Residenz übertragen.

Dem Wirken utopischen Denkens wird ein neuer Raum eröffnet. Das ausgestellte Leiden stiftet Authentizität und legitimiert noch einmal den Glauben an die Reformierbarkeit des Sozialismus. Kassandras Rebellion greift halbherzig den Sozialismus in seiner realsozialistischen Gestalt an, aber nicht den Scheincharakter des Versprechens, der Kapitalismus sei transformierbar.

Diese Rolle, ständig das Ideal stemmen, aber auf das Renegatsein verzichten zu müssen, ist nun gegenstandslos: „Der Kummerspeck der DDR-Literatur wird endlich wegfallen.“

Dieser Aufsatz erscheint im nächsten Band der Zeitschrift 'Text & Kritik‘ zum Thema „Stalinismus & Literatur“.