Auch Ungarn erwägt Abschiebungen

Die Flüchtlinge aus Rumänien und der Sowjetunion stauen sich in Ungarn, nachdem die westlichen Länder und die CSFR faktisch die Grenzen dichtgemacht haben  ■ Aus Budapest Tibor Fényi

Ein Kind von etwa vier Jahren bettelt auf der Straße die Passanten um Geld an. Geben sie ihm ein paar Münzen, macht es einen Knicks und steckt die Filler irgendwie zwischen seine Lumpen. Es kann auch nicht Danke sagen, denn es kommt aus Rumänien und versteht die Sprache nicht. In Budapest ist die Bettelei von rumänischen Roma nun zum Alltag geworden, und immer weniger Leute lassen sich angesichts der ausgestreckten Kinderhände noch erweichen, in das eigene Portemonnaie zu greifen.

Die Ungarn haben sich schnell an das neue Straßenbild gewöhnt, ohne darüber erbaut zu sein. In den Ämtern aber macht sich Unmut breit: „Die Zigeuner kommen in Wellen ins Land. Einigen bin ich schon vier- oder fünfmal begegnet — in der Zwischenzeit waren sie dann in der Tschechoslowakei, in Deutschland — überall werden sie abgeschoben, oder sie kommen — dies ist der seltenere Fall — freiwillig zurück“, sagt Frau Molnár vom Amt für Flüchtlingsfragen.

Ungarn hat seit 1988 über 40.000 Flüchtlinge aus Rumänien aufgenommen. Es handelte sich vor allem um Mitglieder der ungarischen Minderheit und um Regimegegner, die um Asyl nachsuchten. Und das wurde ihnen trotz starker Pressionen aus Bukarest auch gewährt. Nach dem Sturz Ceausescus rechnete niemand mehr in Ungarn mit weiteren Flüchtlingen, doch die Auseinandersetzungen zwischen Ungarn und Rumänen in Tirgu Mures im März und die brutale Aktion der Bergarbeiter am Bukarester Universitätsplatz ließ die Flüchtlingswelle wieder auf rund 5.000 Personen ansteigen.

Größeres Kopfzerbrechen aber bereiten die Familienzusammenführung und die Leute, die sich in Ungarn niederlassen wollen: allein in diesem Jahr 40.000 Personen.

„Die Zahl derer, die mit Touristenvisum nach Ungarn gekommen sind, dann aber nach Ablauf der Frist von 30 Tagen illegal blieben, ist ebenfalls mit mehreren Zehntausend zu beziffern“, sagt Major Janos Zubek, Sprecher der ungarischen Grenzwache. Seitdem alle westlichen Länder die Einreise von Rumänen und Bulgaren erschwert haben und Österreich die Grenzen durch das Bundesheer bewachen läßt, ist der Übertritt über die grüne Grenze fast unmöglich geworden. „Wer über einen gültigen Paß verfügt, dem müssen wir den ungarischen Gesetzen entsprechend gestatten, nach Ungarn einzureisen.“

Die Magyaren empfinden es als untragbar, daß Österreich angesichts des Visazwangs für die Polen auch solche Leute nach Ungarn abschieben will, die zuvor rechtmäßig nach Ungarn eingereist sind. „Wir wollen keineswegs die Rolle des Gendarmen in Europa spielen, indem wir diejenigen Rumänen, Polen oder Russen abschieben, die in den anderen Ländern unerwünscht sind. Doch darf niemand von uns erwarten, daß wir die Einfaltspinsel Europas seien und den gesamten Strom der Flüchtlinge aus dem Osten bei uns aufnehmen“, erklärt Frau Molnár. „Die Zahl der Flüchtlinge aus der Sowjetunion beläuft sich vorderhand bloß auf einige hundert Personen, ihr Anteil wird jedoch von Tag zu Tag immer größer.“

Die Grenzwache klagt auch über eine türkische Menschenschmugglermafia. Unlängst wurden in einem Lieferwagen in der Nähe von Orosháza (Ostungarn) 72 türkische, zwölf irakische und sieben iranische Staatsbürger entdeckt; sie alle wollten die Bundesrepublik erreichen.

„Ein Teil der Schwierigkeiten kommt nicht zuletzt daher, daß wir zur Zeit der ostdeutschen Flüchtlinge die Grenzverletzung bloß als Regelwidrigkeit eingestuft haben. Das hat heute leider zur Folge, daß wir keine rechtliche Möglichkeit haben, um uns gegen diejenigen einzusetzen, die bereits viermal oder fünfmal durch unsere Grenzen spaziert sind“, erklärt István Morvai, Staatssekretär für Politik im Innenministerium.

In einem Monat sollen Maßnahmen mit den Nachbarländern abgestimmt werden, die Abschiebungen möglich machen. „Die Genfer Konvention werden wir auch in Zukunft in Ehren halten, doch muß sich Ungarn mit den Realitäten konfrontieren: Europa hat die Tore geschlossen vor denen, die aus Rumänien, der Sowjetunion und aus dem nahöstlichen Raum kommen“, sagt der Staatssekretär. Kein Zweifel: Er ist überzeugt, daß auch Ungarn Teil von Europa ist.