Dunkelmänner bei der Aufklärung

■ Die verhinderte Stasi-Aufarbeitung — ein Gemeinschaftswerk Diestel/de Maizière und Abgeordneten

Berlin (taz) — In der Überprüfung der Abgeordneten der Volkskammer sah der Bürgerrechtler Wolfgang Templin schon im Frühjahr „den Schlüsselkonflikt, an dem sich der weitere Umgang der DDR-Gesellschaft mit ihrer Geschichte entscheidet“. Am 12. April hatte sich die Volkskammer zur freiwilligen Überprüfung ihrer Abgeordneten auf informelle Mitarbeiterschaft bei der Staatssicherheit verpflichtet. Diese Eingrenzung ließ Partei- und hauptamtliche Stasifunktionen ungeschoren — aber immerhin.

Peter-Michael Diestel ist der fleischgewordene Wiederspruch dieser Volkskammer, das Neue zu wollen und aus dem Alten geschnitzt zu sein. In einem Nebel von antikommunistischer Rhetorik („Ich werde den Apparat zerschlagen“) hat er zielstrebig die Verwandlung der alten (Stasi-)Täter in datengeschützte Opfer betrieben. Als die sechs zur Einsicht in die „personenbezogene Akten“ namentlich autorisierten Mitglieder des Unabhängigen Untersuchungsauschusses Rostock am 20. April beginnen wollten, die Kandidaten für die Kommunalwahl am 6. Mai zu überprüfen, zu der sich alle Parteien des Runden Tisches entschlossen hatten, hatte ihnen der gerade vereidigte Innenminister den Zugang zu den Akten verboten. Grund: Gefahr der unbefugten Datenweitergabe. Trotz Go-in, Protestbrief an de Maizière, Klageerhebung, unzähliger Anfragen blieben die Kommunalparlamentarier unüberprüft.

Exakt das gleiche Spiel in der Volkskammer, als der Prüfungsausschuß am 5. Juli mit der Überprüfung beginnen will: der Innenminister bittet den Ausschußvorsitzenden Brinksmeier zu sich und darum, mit dem Kartenziehen aufzuhören. Grund: Mangelnder Rechtsschutz für die Beteiligten. Von da zieht sich bis zur Absetzung Brinksmeiers Mitte August eine Kette von Datenschutzbedenken, Aktensperrung (10. Juli), neuerlichen Rechtsbedenken, immer vom Innenminister auch im Namen des Ministerpräsidenten geäußert, Verfahrungsauflagen, die eine Überprüfung fast unmöglich machen: Von sieben Ausschußmitgliedern mußten jeweils zwei bei jeder Akteneinsicht dabei sein, dazu ein Vertreter des Abgeordneten und einer der Kirche, und diese alle einmal beim Gang ins Berliner Zentralarchiv, das zweite Mal bei der Fahrt in das jeweilige Bezirksarchiv, aus dem Akten nicht nach Berlin gebracht worden dürfen und eventuell noch das dritte Mal, diesmal zusammen mit dem betroffen Abgeordneten. Brinksmeiers Nachfolger Peter Hildebrand hatte dann die gesamte Liste von 52 Namen in einem Monat zu überprüfen, am Rande der physischen Erschöpfung.

Der Entwurf für ein Gesetz über den Umgang mit Stasi-Akten, eingebracht von de Maizière, sollte die mögliche Vernichtung der „personenbezogenen Daten“ aus den Stasi- Akten legal machen. Der Gesetzentwurf hatte „den Schutz des einzelnen“, das heißt auch den Schutz des Stasimitarbeiters, „vor Beeinträchtigung in seinen Persönlichkeitsrechten“ zum obersten Zweck. Aus Diestels Stasi-Schutz-Gesetzentwurf hat der Sonderausschuß ein Gesetz gemacht, das „die politische, historische und juristische Aufarbeitung“ der Stasi-Tätigkeit bezweckte. Beraten von Diestels Ministerialen verhandelte Krause in Bonn — 14 Tage nach dem Beschluß des Gesetzes (24.8.) drohte es, durch den Einigungsvertrag Makulatur zu werden.

Ende August schien Templins „Schlüsselkonflikt“ geklärt: Tür zu, Schlüssel in die Spree und ab nach Bonn. Dafür waren außer dem Innenminister und seinem Ministerpräsidenten auch etliche Volkskammer-Abgeordnete selbst verantwortlich. Drei Monate lang verweigerten die Fraktionen von CDU/DA und Liberalen dem Prüfungsausschuß die Protokolle der Selbstüberprüfung, die Voraussetzung für die Arbeit des Ausschusses waren.

Die Überprüfung der Kommunalparlamentarier hatten CDU/DA, Liberale und DSU mit Duldung der SPD schon im Mai verhindert. Sie verwiesen das Gesetz, das die die rechtsstaatliche Grundlage für die Überprüfung hätte schaffen sollen, auf Nimmerwiedersehen an die Ausschüsse. Die Begründung der Abgeordneten liefen darauf hinaus, auf die politische Überprüfung von Abgeordneten überhaupt zu verzichten — und dies genau einen Monat, nachdem sie sich selbst darauf verpflichtet hatten. Die Argumente sind genau die, die Diestel seit Monaten vertritt:

—Die Stasiakten sind ein „Produkt des Bösen“ (Diestel) und zur Überprüfung ungeeignet. Diestel wollte sie ursprünglich nach einem dreiviertel Jahr, wo sie zur Rehabilitierung dienen mögen, vernichten.

—Nicht etwaige „Berührungspunkte mit dem MfS“, schon gar nicht bloße Parteivergangenheiten, sollen für Ämter hinderlich sein. Allenfalls sollen Gerichte mutmaßlichen Tätern ihre Verbrechen nachweisen.

„Wichtiger als das Interesse an der umfassenden Offenlegung aller Akten ist der Schutz der Persönlichkeitsrechte.“ (Diestel) Und die Persönlichkeitsrechte sind vorrangig die der Verantwortlichen von gestern, die sich in den Köpfen der vielen Diestels in Opfer verwandeln. Willibald Böck, CDU, argumentierte am 10. Mai in der Volkskammer gegen ein Recht der Abgeordneten auf Überprüfung, „weil es letztendlich eine Ent-SED-isierung in unserem Lande verhindern. Ich weiß mich da einig mit vielen meiner Freunde, ehemaligen Genossen von der SED, die ehrlich gearbeitet haben und die genauso wie viele und eigentlich alle Menschen unseres Landes hinter Mauer und Stacheldraht wie Verbrecher gehalten worden sind.“ Uta Stolle