BAR TONY

■ Ignoranten - und ein trotziges "auf Wiedersehen"

Ignoranten — und ein trotziges „auf Wiedersehen!“

VONRÜDIGERKIND

Das Schild an der Hauswand zeigte an, daß wir in der „Rio terrà primo“ standen — oder eher in dem? Egal ob Fluß oder Erde, nach stundenlangem Marsch durch die Gassen Venedigs hatten wir erst mal Durst. Unsere Blicke blieben an dem verwitterten Schild über der Tür des Eckhauses hängen, welches in wulstigen Lettern „Birra Wunster“ verhieß, mit gemaltem Schatten, und sachlicher: „Bar Tony“. Über der Eingangstür zur Bar hing ein Wedel aus roten, grünen und goldenen Stanniolstreifen, ein verwunschener Neujahrsgruß. Er begann leicht im Zugwind zu wippen, als ich die Bartür öffnete.

Die Bar war fast leer. Nur zwei ältere Männer standen an der Theke und unterhielten sich mit dem Barmann. Der eine nahm gerade ein Glas Weißwein in Empfang und verzog sich damit an einen der kleinen Tische in der Ecke. Der Barmann, sicher der Wirt, um die fünfzig, erwiderte unser „buon giorno“ mit gleichgültiger Stimme und hantierte weiter an der Kaffeemaschine, während wir überlegten, was wir nehmen sollten. Aber unsere Aufmerksamkeit wurde angezogen und gefesselt von den zwei Neonröhren in langgestreckter Stadionform, die an Metallstäben von der Decke hingen, abgedeckt von zwei Milchglasplatten mit ziseliertem Girlandenmotiv, die das harte Neonlicht zurückfilterten in den alten Dämmer verschwommener Zeiten. Der Wirt schaute einige Male unsicher und fragend von der Unterhaltung mit seinem Spezi auf, ob wir uns endlich entschlossen hätten. Hatten wir aber nicht. Wir standen noch nicht einmal an der Theke, sondern mitten im Raum — nicht bestellt und nicht abgeholt.

„Bitte?“ fragte schließlich der Wirt, auf deutsch, zögernd.

„Un cappuccino e un Fernet!“, unbemerkt einander entschlüpft. Wie immer.

Haselnüsse aufgereiht in Zellophanschlangen, deren Ende auf einen Metallstab gespießt, Sortiment Brooklyn-Kaugummi Arancia bis Joghurt, die Wände übersät mit Fußbalwimpeln, Mannschaftsfotos, einer Ehrenfahne mit goldgestickter Schrift auf blauer Seide: Milan Giudecca. Unsere Blicke wanderten, mußten wandern in dieser Arena der vergangenen Triumphe, die noch einmal vom Betrachter den Tribut der Bewunderung forderten. Dann kamen die Getränke. Über der Bar hing ein ziemlich großes, altes Schwarzweißfoto, auf dem der riesenhafte Schriftzug „Coca Cola“ quer über dem Markusplatz zu sehen war. Es schien zunächst, als sei die Aufnahme von sehr weit oben gemacht worden, vielleicht eine Luftaufnahme, und als hätten Menschen den Schriftzug gebildet, eine schwarz wimmelnde Werbeprozession. Aber beim zweiten Hinschauen bemerkten wir, daß es Tauben waren, denn ganz am Rand standen ein paar Männer, richtige Riesen, die das Picknick neugierig verfolgten. Vielleicht waren sie es auch, die den Tauben das Coca-Cola-Emblem mit Körnern auf den Platz gestreut hatte, das diese dann mit der nie endenden Gier der Markusplatz-Tauben belebten, es immer stärker verdichtend, bis es schließlich in flüchtiger Kompaktheit dastand, um nach kurzem, rauschhaftem Genuß wieder aufzuflattern, den Schriftzug mehr und mehr verdünnend, bis er, ganz verflüchtigt, nur noch in ihren fetten, grauen Leibern verstreut, in den Nischen und Arkaden und auf den Dächern Venedigs weiterlebte. Die Fotografie hielt diesen Moment der größten Dichte fest, ließ die Schrift gerinnen, und doch schien sie von den wuselnden Tauben zu quirlen und zu schäumen.

Ich fragte den Wirt auf italienisch, aus welchem Jahr die Aufnahme sei. Er unterbrach kurz seine Tätigkeit, schaute mich kurz an, dann das Foto, auf das ich gedeutet hatte, dann wandte er sich wieder wortlos seinem Geschäft zu. Er schien zu überlegen. Plötzlich sagte er, ohne aufzuschauen, „quarantanove“. Widerwillig, fast mißbilligend stieß er die Zahl hervor. Kurz darauf entdeckte ich ein Schild an der Eingangstür, das man von hinten entziffern konnte, da es aus lichtdurchlässigem Material bestand: nekops hsilgne, sia¿narf elrap no, hcstued thcirps naM.

Mir dämmerte es. Tony spricht deutsch. Und ich teutonischer Barbar muß ihm mit meinen paar Italienischbrocken einen Strich durch die Rechnung machen, ausgerechnet!

Die Situation war verfahren — am besten, wir zahlten und entflohen so allen weiteren Peinlichkeiten auf dem schmalen Grat zwischen Anbiederung und Arroganz. Ich hob das Portemonnaie und bedeutete dem Barmann, daß wir zahlen wollten. Er nickte, und nach einer letzten Suche in seinem deutschen Zahlenarsenal, ergebnisloser Suche wie vermutet, sagte er „millesei“.

Wir zahlten, verabschiedeten uns mit einem vorsichtigen „buon giorno“ und wandten uns zur Tür. Zunächst kam keine Erwiderung, aber als wir schon fast an der Tür angelangt waren und uns anschickten, die Bar zu verlassen, flatterte es zu uns herüber, quer durch den Raum, sein trotziges, triumphierendes „auf Wiedersehen!“.