Horizont im Quadrat

■ Paul Virilio, der französische Geschwindigkeitsforscher, über den US- Nachrichtensender CNN: die eigentliche Eingreiftruppe im Golfkrieg

Wie sollte man nach einem Monat Fernsehduell immer noch nicht verstanden haben, daß die wirkliche Streitkraft, die im Golf eingreift, das Fernsehen ist? Genauer gesagt: CNN, der Fernsehsender aus Atlanta. Saddam Hussein und George Bush, aber außerdem ist noch Ted Turner mit von der Partie, der Chef von Cable- News-Network.

Mittlerweile ist die Diplomatie nur noch effektiv durch zwischengeschaltete Bilder. Hier und dort eine unbesiegbare Armada aufzufahren macht nur Sinn unter der Bedingung, daß man gleichzeitig auch den Bildschirm besetzt (live coverage). Das Bild die Sache, von der es doch nur das „Bild“ ist.

Die Kunst der Diplomatie bestand darin, die Worte genau abzuwägen, meistens um nichts zu sagen. Daraus ist nun die Kunst geworden, Bilder gegeneinander abzuwägen, um nichts zu zeigen, oder fast nichts, wie jenes unbekannte Flugobjekt mit der Nummer F.117...

So verfolgt beispielsweise der Präsident der Vereinigten Staaten heute permanent CNN, das zu einem seiner wichtigsten Kommunikationskanäle geworden ist, schneller als die üblichen diplomatischen Verfahren. Das geht so weit, daß ihn die Fernsehauftritte Saddam Husseins beunruhigen und er sich darüber Gedanken macht, ob die Ausstrahlung dieses oder jenes Interviews des irakischen Staatschefs opportun ist.

Handelt es sich noch darum, die öffentliche Meinung zu beeinflussen, zu überzeugen? Sicher nicht, denn dem Bild der Direktübertragung geht es nicht um Überzeugung, höchstens um Emotion, eine gewisse Angst. „Wir erleben ein Wechselbad von Freude und Verzweiflung, innerhalb weniger Minuten“, erklärt eine britische Geisel. Als Geisel der Fernsehschnittstelle wird der Zuschauer zum Empfänger eines Ungewißheitsprinzips, das im Takt der „Communiqués“ aufrechterhalten wird, nach dem Muster irgendeines Botschaftspersonals.

Die Bedeutung der verschiedenen übermittelten „Botschaften“ steht nicht mehr im Zusammenhang mit der Zeitspanne der Fernsehsendung, sondern vor allem mit der langen, sehr langen Dauer der Bedrohung. Denn diese neue „Fernsehserie“ hat am 2.August begonnen und wird wahrscheinlich erst mit dem Ende der Golfaffäre zum Abschluß kommen, in einem Monat, in einem Jahr oder noch länger, wer weiß?

Die Aufmerksamkeit jedes einzelnen zu fokussieren, zu lenken — damit wird nach und nach die Zeitlichkeit der Bevölkerungen reorganisiert. Es geht nicht so sehr um ihre Meinung, sondern um ihre Zeiteinteilung. Das Bild der Direktübertragung ist ein „Filter“, nicht im räumlichen Sinne, durch die Bildeinstellung, sondern vor allem im zeitlichen Sinne: es ist eine mono-chronischer Filter, der nur die Gegenwart passieren läßt. Das hat nichts mit Filmanalyse zu tun, nichts mit der üblichen Kritik der Fernsehgewohnheiten, sondern wir sind hier mit einer videoskopischen Technik konfrontiert, mit einer Logistik der Wahrnehmung, die uns alle aufs Korn nimmt und nach und nach vereinnahmt.

Es ist also überflüssig, die Frage zu diskutieren, was die „Information“ noch von der „Propaganda“ unterscheidet, diese Frage ist schon nicht mehr aktuell, denn die aktive — interaktive — Desinformation besteht nicht in der Lüge, sondern im Übermaß widersprüchlicher Informationen, in der Überinformation.

In der Offensive der Direktübertragung ist alles wahr, „wahr“ im instrumentellen Sinn des Begriffs, d.h. wirksam und unmittelbar wirkungsvoll. Die audiovisuelle Landschaft wird zu einer „Kriegslandschaft“ und der Bildschirm zu einem Horizont im Quadrat, den Videosklaven ausgesetzt wie das Schlachtfeld dem Raketenbeschuß.

Wir haben es hier nicht mehr mit einem Hören auf Distanz, mit Hör- Funk zu tun (wie Radio London zur Zeit der deutschen Besatzung), oder mit einem Sehen auf Distanz, wie Fern-Sehen (CBS, ABC, NBC... zur Zeit des Vietnam-Kriegs), sondern jetzt handelt es sich um ein Fern- Handeln, eine Tele-Aktion, bei der die beteiligten Parteien sich in einer Situation absoluter Interaktivität befinden, vor aller Augen, durch Sender wie Cable-News-Network.

In diesem schlagartigen Krieg der Echtzeit, wie auch im Krieg im „Echtraum“ des Golfs, sind letztlich die Mittel nicht so entscheidend — Satellit, TV, Raketen, Panzer... —, weil allein das Ziel zählt. Die Moralität des Ziels rechtfertigt alle politischen Mittel und alle Medien, aber dieses Ziel ist nicht so sehr das Ende eines Konflikts um irgenein Land, sondern vor allem das Ende des Verzugs, die zwingende Notwendigkeit einer absoluten Nähe zwischen militärischen und zivilen Protagonisten, mit dem eingestandenen Ziel, den Zeitraum zwischen Absichten und Aktion auf null zu reduzieren.

Erinnern wir uns: früher bekriegten sich die Völker am Tage, niemals in der Nacht. Außerdem wurde nur im Sommer gekämpft, nie im Winter — daher die „Iden des Mars“, mit denen in Rom die Feindseligkeiten eröffnet wurden. Als Erbe der atomaren Abschreckung ist der Krieg heute zu einem totalitären und allgegenwärtigen Phänomen geworden, und das Bild zu einer „Mutation“ unter anderen. Die Sache (Flugzeug, Panzer, Schiff...) ist nicht so entscheidend, ihr Bild (Radar, Video...) ist nicht so entscheidend, was zählt ist, daß sie in Echtzeit präsent ist.

In den Vereinigten Staaten wird seit einiger Zeit auf Verlangen der Verbraucherbände ein Anti-Play- back-Gesetz vorbereitet. Es soll dieses Verfahren auf der Bühne und im Fernsehen verbieten. Zeichen der Zeit: Der Krieg gibt sich nicht mehr mit der Aufzeichnung zufrieden, er braucht Direktübertragung.

Bei der Desinformation (im Englischen: deception) handelt es sich nicht mehr um eine propaganda fide, das heißt um die Verbreitung eines bestimmten „Glaubens“ — zum Beispiel an den Sieg — oder einer ideologischen oder politischen Überzeugung, sondern einzig und allein um die Verbreitung eines Gefühls, einer Wirkung, anders gesagt, einer Tele- Aktion bei jedem zu Hause.

Wie die Wettervorhersage keine gewöhnliche Information ist, ist auch die Tele-Kontrolle, der Tele- Alarm der Mentalitäten keine „Propaganda“-Technik (im Sinne eines Goebbels), sondern in erster Linie die Einstellung eines öffentlichen Bildes, die möglichst „hohe Auflösung“ („high-definition“) der gesellschaftlichen Wirklichkeit.

Was sich gestern mit der Presse im Tagesrhythmus abspielte, dann mit dem Radio im Stundentakt, spielt sich inzwischen im Augenblick ab, in der Echtzeit des vom Fernsehen live ausgestrahlten Communiqués. Genau darin liegt der Unterschied zwischen dem propagandistischen Einsatz der filmischen Wochenschauen in den beiden Weltkriegen und dem Einsatz eines weltweiten Fernsehnetzes in der Golfkrise. Was in die ganze Welt übertragen wird, ist vor allem Fernsehen, es ist nicht oder noch nicht Krieg. Die Zeitlichkeit der Film-Wochenschauen wie Fox- Movietone oder Pathé-Journal war die verschobene Zeit, ähnlich wie heute noch die der Wochenzeitungen. Mittlerweile, mit der Befreiung der Medien, mit dem Aufkommen von Sendern wie CNN, ist die vorherrschende Zeit die Echtzeit. Eine praktische Dauer, die überhaupt keinen Abstand, keine kritische Distanz mehr erlaubt, eine Zeit, in der sich „vorher“ und „nachher“ nicht mehr unterscheiden läßt — und Angriff nicht mehr von Verteidigung —, mit allen Risiken einer verhängnisvollen Verwechslung, die das beinhaltet.

Mittlerweile sind wir alle zusammen nicht für oder gegen den Krieg, den Frieden, sondern alle dagegen, in einem Konflikt der Nähe, der auch ein „Interpretationskonflikt“ ist, das niemand mehr die notwendige Zeit hat, sich eine Meinung zu bilden, sondern nur noch die Zeit, von einem Reflex zum anderen überzuwechseln.

Eine Wahrnehmungsstörung und Mediendressur, der beide Gegenspieler unterworfen sind und in der sie sich plötzlich und widersinnigerweise als Verbündete wiederfinden. Oder in der sie wider Willen von ferne miteinander verbunden sind durch den Bildschirm, dem scheinbaren Horizont eines Schauplatzes, auf dem alle Schläge erlaubt sind: wann kommt es zum „show-down“ zwischen Bush und Hussein?

Letzten Endes gibt es kein besseres Sinnbild für diesen Konflikt als das zum Verschwinden gebrachte Flugzeug F.117. Ein Flugzeug, das einem synthetischen Bild gleicht und eine Bestätigung dafür ist, wenn sie denn nötig wäre, daß das Bild über die Sache triumphiert, deren „Bild“ es ist. Diese Maschine wurde in den achtziger Jahren mit der Absicht entwickelt, auf den gegnerischen Kontrollschirmen keinerlei „äquivalente Radarwellenfläche“ abzugeben.

Widerspruch zwischen den aerodynamischen Anforderungen an ein Kampfflugzeug und den isodynamischen an seine ferne Repräsentation. Daher ist der F.117 keine Kriegsmaschine wie eine andere: er ist nicht besser bewaffnet, nicht so schnell und nicht so manövrierfähig wie der F.15 oder der F.16. Und trotzdem stellt er eine unglaubliche Innovation in dem Duell zwischen Waffe und Rüstung dar, denn sein elektro-magnetisches Verschwinden ist wichtiger als seine Zerstörungskapazität, ja sogar als seine Beweglichkeit.

Fassen wir zusammen: jede Militärmaschine gehört wegen der Erfolge der Zielerfassung zu zwei Teilbereichen des „Wirklichen“: die aktuelle Präsenz — das Flugzeug ist da und läßt sich optisch und akustisch identifizieren. Und die virtuelle Repräsentation — das Flugzeug ist nicht da, aber auf dem Radarschirm taucht es schon auf. Das Ziel der Erfinder von nicht aufspürbaren Maschinen ist es, um jeden Preis (das kann man wohl sagen) die virtuelle Repräsentation zu verhindern, so daß nur noch die aktuelle Präsenz im Akt bleibt, nur noch die Echtzeit des Vernichtungsschlags.

Die Zeit der Früherkennung abschaffen, indem man die Oberflächen beseitigt, die Radarwellen zurückstrahlen können, so daß das unbekannte Flugobjekt so plötzlich auftauchen kann wie der Tod... Wie der Mann, der sein Spiegelbild verloren hatte, hat der F.117 sein elektromagnetisches Bild verloren.

Die Natur der Verstellung ändert sich: das Flugzeug wird nicht mehr hier getarnt, sondern dort verborgen. Die strategische Forderung, das ferne Bild auszulöschen, hat über die alte Technik der Tarnung triumphiert. Sie verleiht dem Jet seine rätselhafte Form und erlaubt es dem Piloten, dazusein, direkt, live, vor Ort.

Das ist das Verbot des Play-backs. Mit der Erfindung der Fernerfassung sah man das Flugzeug kommen, bevor es da war, doch nun wird man es erst sehen, wenn es wirklich da ist, das heißt, wenn es zu spät ist.

In der Golfkrise passiert durch CNN-LIVE das Umgekehrte: man sieht den Krieg zu früh, alles ist schon da, alles schon gesehen, und wer weiß, vielleicht auch schon entschieden?

Aus dem Französischen

von Gustav Roßler