Aktienmärkte: Saddams erster Etappensieg

Was tun gegen die weltweiten Kursstürze? „Fahren Sie nach Bagdad und legen Sie ihn um“/ Schleichender Crash in Wallstreet, Frankfurt und Tokio  ■ Von Broka Herrmann

„...Gerüchte über gegenseitige Ultimaten des US-Präsidenten George Bush und des irakischen Präsidenten Saddam Hussein stellten sich ebenso als Falschmeldungen heraus wie die angebliche Besetzung der US-Botschaft in Kuwait durch irakische Truppen. Sogar ein angeblicher Umsturz in der Sowjetunion lief am New Yorker Ölmarkt als Gerücht um. Die Reaktionen auf jedes noch so unwahrscheinliche Gerücht sprechen für die außerordentlich nervöse Stimmung in New York...“

('dpa‘, 27.9., 3 Uhr 42)

„...Verantwortlich für den Anstieg der Ölpreise war eine Zuspitzung im Nervenkrieg der Golfkrise. Dabei wurden Gerüchte laut, wonach es in dieser Region zu Kampfhandlungen gekommen sei. Diese jedoch wurden vom US-Verteidigungsministerium dementiert. Darüber hinaus beherrschten Ängste den Ölmarkt, nach denen bei einer Zerstörung der Ölförderanlagen in Saudi-Arabien der Ölpreis auf 100 Millionen [!] Dollar je Barrel ansteigen könnte...“

('dpa‘, 27.9., 23 Uhr 22)

Jetzt muß etwas handfestes passieren am Golf“, kapitulierte ein Händler in der Frankfurter Börse, „sonst fällt der Index auf 1.000 Punkte“. Derzeit hängt der Deutsche Aktienindex (DAX) bei rund 1.350, Ende Juli noch versuchte er sich an der 2.000er-Marke. Die Aktienkurse schmelzen dahin wie Eiskonfekt im Wüstensand. Weltweit sind die Effekte zu Fallobst verkommen, seit Saddam Hussein Kuwait annektiert und mit der Sprengung sämtlicher Ölfelder gedroht hat und die Spekulanten den Barrel-Preis verdoppelt haben. Die Wallstreet wurde um annähernd 20 Prozent, Frankfurt um 30 und Tokio um 40 Prozent geschröpft.

Allein in der Bundesrepublik ließ der schleichende Crash, der jetzt schon die Ausmaße des 87er-Fiaskos angenommen hat, das Börsenkapital um 200 Milliarden DM ausbluten. Selbst die englische „Bärenfalle“ funktioniert nicht mehr, mit der die Londoner Broker noch jeden Frankfurter Makler aufs Kreuz gelegt haben: Zu Handelsbeginn werden Anteils-Pakete abgestoßen und damit die hiesigen Angsthasen in den Verkaufsstrudel gezogen, bis ein mittlerer Kursrutsch ausgelöst ist, um anschließend das billig gewordene Material wieder aufzukaufen. „Quick Mark“ nennt sich der Taschenspielertrick an der Themse. Doch die Zocker von der Insel haben die Zigarren ausgedrückt.

Überhaupt alle Ausländer, vorweg Amis und Japaner, haben das deutsche Parkett fluchtartig verlassen und ihre Blue Chips-Lieblinge Daimler, Siemens, Deutsche Bank, BASF und vor allem VW fallen gelassen wie heiße Kartoffeln. Volkswagen etwa fuhr gleich 45 Prozent im Rückwärtsgang und fiel im Kurs von 650 auf 370 DM.

Liquiditätsprobleme der Spekulanten ohne Eigenkapital heizen zusätzlich an. Ließ sich in den vergangenen acht Jahren auch mit hochprozentig gepumptem Geld noch ordentlich Reibach machen, weil die Aktienkurse um ein Mehrfaches rentierten, rutschen die Finanzjongleure jetzt ins Doppelminus: Fallende Aktien und steigende Zinsen. Panikartige Notverkäufe solcher Adressen waren bereits am vergangenen Dienstag auszumachen, als der DAX in zwei Stunden 4,4 Prozent verlor. Allein die hiesigen neuen Erben, die Kleinanleger und die Insitutionellen, halten die Schwitzehändchen noch halbherzig dagegen.

Kriegsangst ist der Schrecken ohne Ende, der die Börsianer den totalen Zusammenbruch befürchten und fatale Sprüche klopfen läßt. Ein Analyst der Dresdner Bank beantwortete die Frage nach der richtigen Anlagestragie Anfang der Woche mit Tyrannenmord: „Fahren Sie nach Bagdad und legen Sie ihn um, den neuen Hitler.“

Ratlosigkeit und Sehnsucht zugleich. Die schnelle, billige Befreiung aus dem Ölpreis-Trauma. Danach die Sintflut. Aber auch die würde der Kapitalmarkt zum geeigneten Zeitpunkt vorwegnehmen. „Krieg wäre schauderhaft“, nicht weil es um Menschenleben oder um Ideologien gehen könnte, sondern „um viel mehr“: Der Preis für das Lebenselixier der westlichen Industrienationen liegt mitten im anvisierten Schlachtfeld. Seit Anfang August schoß das Öl von 18 auf über 40 Dollar — die Höchstmarke seit der Ölkrise 1980. Die Weltbank hat das Barrel für den Kriegsfall bereits auf 65 Dollar hochgerechnet. Dies würde die gesamte westliche Welt in Rezession und Inflation stürzen.

Die eh schon marode US-Wirtschaft säße in der Zinsfalle: Einerseits sollten die Zinsen als Anreiz für binnenwirtschaftliche Investitionen gesenkt werden, andererseits wäre eine Erhöhung erforderlich, um den Dollar zu stützen und Auslandskapital anzulocken. In Japan und Deutschland, den Ländern mit den höchsten Wachstumsprognosen, würde Inflationsdruck den Hochzins fortschreiben und die Konjunktur dämpfen. Wer will sein mühsam Erspartes schon in den schwindsüchtigen Aktienmarkt stecken, wo sich Post und Bund auf dem Rentenmarkt für zehnprozentige Zuwächse verbürgen? Nach der längsten Hausse der Geschichte ist dies pures Gift für die Börse.

Die Ost-Euphorie ist am Golf gestrandet, und da keiner weiß, wie und wann das Problem gelöst wird, drohen die Handelsplätze auszutrocknen. In Frankfurt geschieht dies mit den täglichen zwei Prozent minus, die Sat1-Börsenreporter Friedhelm Busch stilecht zu Grabe trägt: „Was ist bloß aus unserer schönen Ostphantasie geworden? Restlos verbraucht, ja nahezu abgetötet!“ Ein New Yorker Investment-Banker von Salomon Brothers weinte vor Wochenfrist dem Barrel-Preis von 25 Dollar nach, der, von Saddam Hussein vor der Kuwait-Einverleibung gefordert, als „Inflationsschub“ verweigert worden war: „25 Dollar würden wir heute mit Handkuß bezahlen.“

Die Durchhalteparolen klingen wie Aprilscherze: „Na, wenn das keine Kaufkurse sind“, versucht Busch seit 17 Tagen in manischer Wiederholung die Discount-Preise schmackhaft zu machen. Wer seinem Rat bereits vor zwei Wochen gefolgt ist, hat unterdessen ein Fünftel seines Einsatzes verloren. Die Kollegin von der Telebörse, Eva Maria Weisweiler, bietet den „Einstieg bei diesen Dumping-Kursen“ hemmungsloser an, auch wenn das militärische Inferno droht. Denn „lange kann es ja nicht dauern, weil die amerikanischen Boys an Weihnachten wieder zu Hause sein wollen“.

Einen seriöseren Ausblick gibt ein Fondsberater der Bregenzer Sparkasse. Er glaubt, daß sich die Kurse erholen werden, da „die Banken spätestens zum Jahresultimo ihre Bewertungsgrundlagen verbessern“ wollen. Ihr Eigenkapital, in das auch die gehorteten Aktien einfließen, rutscht an die unterste zulässige Grenze. Der Berater ist überzeugt, daß sie kaufen müssen, um einen Aufwärtstrend auszulösen — ansonsten sei ihre „Substanz gefährdet“.

Die Pessimisten hingegen erwarten keine schnelle Erholung. Inflationsrausch, Zinslast, Kapitalbedarf für die Ostsanierung und Steuerhöhungen „decken Unternehmensgewinne und Konjunktur auf lange Sicht“. Wie dem auch sei, für Spannung ist gesorgt. Derweilen klammert man sich in der schieren Verzweiflung an rein symbolische Ereignisse, die zwar keine Entspannung bringen, aber medienwirksam neue Weltordnungen verheißen. Das Schulterklopfen von Bush und Gorbatschow in Helsinki brachte wenigstens eine eintägige Erholung der Kurse um zwei Prozent.

In Tokio, wo die Börsianer zwischen himmelhohem Jauchzen und Todestrübnis keine Gefühlsregung kennen, sprang der Nikkei-Index gar um 4,7 Prozent. Überhaupt scheint der fernöstliche Spieltrieb vom Nahen Osten besonders inspiriert zu sein. Obwohl und gerade weil Japan von Energieimporten extrem abhängig ist, bewegen dort Gerüchte mehr als Fakten. Während der ersten beiden August-Wochen, zu Beginn der Golfkrise, verbreitete sich die Flucht Saddams aus dem Irak wie ein Lauffeuer durch den Börsensaal. In der Folge ließen sie auf dem Tokioter Parkett wenigstens drei US-Starfighter abschießen, mehrere amerikanische Diplomaten meucheln, Hussein ermorden und in der Nacht von Donnerstag auf Freitag endgültig den Krieg ausbrechen — und solches mit steter Regelmäßigkeit in der letzten Handelsstunde. Milliarden wechseln so die Kassen, bevor das Bewußtsein nach der Schlußglocke wiedererlangt wird und die Enten geschlachtet werden können.

Woher die Meldungen und Gerüchte kommen, wissen wir nie so genau. Kenner der Kulisse behaupten, daß sie von großen Broker-Häusern teilweise sogar über die privaten Rundfunksender der japanischen Metropole gestreut und zum jeweiligen Zweck eingesetzt werden. Mal 'ne Hausse-Nachricht für den gewinnträchtigen Verkauf, mal 'ne Baisse-Nachricht für den billigen Einkauf. Letzteres schlägt seit Wochenbeginn besonders gut ein: In den vergangenenen vier Handelstagen büßte der Nikkei mehr als elf Prozent ein.

Derweilen schlägt sich der sicherheitsbewußte Anleger auf den Bauch, parkt sein Geld in neunprozentigen DDR-Anleihen und hofft auf die Schlacht am Golf. Dann, so die Spekulation nach Feierabend, wird alles noch billiger.