Tränen, Schreie und Blockaden

CDU, PDS und FDP wollten den Stasi-Mief in der Volkskammer bewahren / Fraktionschefs weigerten sich, Namen von belasteten Abgeordneten zu nennen/ Ausschuß lavierte/ de Maizière schwieg  ■ Von Petra Bornhöft

Berlin (taz) — Die große Volkskammer-Koalition der Vergangenheitsverdunkelung hielt auch am letzten Tag zusammen. Bereits um sieben Uhr hatte das DDR-Parlament seine Sitzung eröffnet — am frühen Abend war die Namensliste der belasteten Abgeordneten und Minister noch immer nicht verlesen. Für den Ausschuß zur Kontrolle der Stasi-Auflösung bilanziert am Morgen dessen Vorsitzender Jochen Gauck. „Wir haben erst die Spitze des Eisbergs gesehen“, kommentiert er die dürren Arbeitsergebnisse in Sachen Auflösung. Weniger die aktuellsten Zahlen über ermittelte „Offiziere im besonderen Einsatz“, als vielmehr der diskrete, moralische Appell an das „Eingeständnis der Schuldfähigkeit und Feigheit“ scheint einige Abgeordnete zu beeindrucken.

Doch der Eindruck trügt, wie sich später zeigt. Nur ein einziger von zwölf Abgeordneten und drei Ministern, denen der Ausschuß zur Überprüfung der Stasi-Vergangenheit Mandatsniederlegung bzw. Rücktritt empfohlen hat, hat sich bislang aus der Volkskammer zurückgezogen. Das berichtet Ausschuß-Vorsitzender Hildebrand. Von den 76 Überprüften wurden 56 in der Stasi- Kartei für inoffizielle Mitarbeiter aufgespürt. Hildebrand verschweigt die absonderliche Arbeitsweise des Gremiums: die den Fraktionsvorsitzenden im Briefumschlag übergebenen Namen sind beim Ausschuß „jetzt nur noch im Kopf vorhanden“, so ein Ausschußmitglied zur taz, „wir wollten nicht, daß irgendjemand irgendwelche Zettel in unseren Schreibtischen findet“.

Coram publicum eiern die Überprüfer herum. Sie empfehlen, dem Antrag vom Bündnis 90 auf Namensnennung nicht zu folgen. Die parteienübergreifende Argumentation bringt SPDler Schwanitz auf den Punkt: „Es besteht nicht die Möglichkeit zu differenzieren. Die Konsequenzen sind nicht absehbar“, Mord und Totschlag werden prophezeiht. Gleichwohl hat der Ausschuß dem Volkskammerpräsidium einen Antrag formuliert, der Namensnennung bei entsprechender Kategorisierung der Überprüften empfiehlt. Dieses (nebenstehend dokumentierte) Papier trägt die Unterschrift von Präsidentin Bergmann-Pohl, die die fragliche Liste vorlesen sollte. Offensichtlich unter Druck gesetzt, weigert sie sich plötzlich, die Namen vorzulesen: „Ich erinnere an einen Artikel in der taz, der Adressen von ehemaligen Stasi-Angehörigen enthielt. Danach kam es zu Verfolgungen bis in die Familien hinein. Ich will nicht verantwortlich sein, Kinder ins Unglück zu stürzen.“ An dieser Bemerkung stimmt nichts. Ihr „Argument“ überzeugt Hunderte mehr als die Haltung des Bündnis 90. Für ihre Fraktion nennt Marianne Birthler zwei Namen von überprüften Abgeordneten — einer war Stasi- Opfer, der andere unterschrieb mit 18 Jahren eine Verpflichtungserklärung, ohne dann aktiv zu werden. Nachdem Vizepräsident Ullmann sich bereit erklärt hat, anstelle von Bergmann-Pohl die Namen zu nennen, beginnt endloses Gefeilsche und Hinauszögern der Abstimmung. Die PDS schweigt, von der CDU fechten Hinterbänkler, und Markus Meckel zeigt, daß er von der Sache keine Ahnung hat. Doch schließlich heben sich die Arme der Mehrheit für eine Namensnennung. Gregor Gysi stimmt dagegen. Eindeutig hat sich das Parlament entschieden, doch der Ausschuß beantragt eine halbstündige „Auszeit“. Die dauert zweieinhalb Stunden. In der Zwischenzeit sickert es durch: Die Fraktionschefs von CDU, FDP und PDS weigern sich, die Namen herauszurücken. Stundenlang überlegt die SPD, „wie wir die unter Druck setzen können“, um dann zu dem Ergebnis zu kommen, beim nächsten Tagesordnungspunkt den Saal zu verlassen, so berichtet einer. In der CDU beackert Fraktionschef Krause die Kollegen. „Der hat uns erzählt, wie schlimm es für seine Familie war, als die Sache mit seinem Hauskauf bekannt wurde.“ Verständnisvolle Mienen, schließlich „wird ganz sicher morgen jemand hängen, wenn die Namen genannt werden“. Welch abgrundtiefes Mißtrauen gegenüber dem Volk! Einige CDU-Abgeordnete indes mißtrauen Krause. Sie wundern sich in der Lobby, warum Lothar de Maizière kein Wort in der Debatte gesagt hat. Aschfahl, in sich zusammengesackt verfolgt er die Diskussion. Auch in der Fraktion schweigt der Mann, von dem die Akten angeblich fehlen. Sollte de Maizière über sich oder einfach nur darüber nachdenken, ob nicht auf der Liste für den Bundestag Abgeordnete stehen, um deren Namen es hier möglicherweise gehen könnte?

So ganz ergebnislos ist die stundenlange Unterbrechung nicht: Der FDP ist eine neue Idee gekommen, die Namensnennung zu sabotieren: sie bezweifelt deren Verfassungsmäßigkeit — obgleich es überhaupt keine legitime Verfassung gibt. Christine Grabe brüllt sich ihre Trauer und Wut über das „erbärmliche Schauspiel“ von der Seele. Auch der Paralmentspräsident verfällt ins Schreien, unterbricht indes erneut — für zwei Stunden — die Sitzung. Kaum begonnen, läßt sich das Bündnis 90 zum Sitzstreik vor dem Podium nieder und ruft zur Demonstration vor die Volkskammer auf. Nach erneuter Unterbrechung gibt der Verfassungs- und Verwaltungsausschuß sein 0kay. Doch jetzt schlägt die Stunde für den Krause: Er beantragt Ausschluß der Öffentlichkeit bei der Lüftung des Miefs. Offenbar in dem Wissen, daß die Namen doch binnen Kürze herauskommen, treten einige die Flucht nach vorn an. Serienweise purzeln die persönlichen Erklärungen. Bauminister Viehweger — „Ich habe hauptsächlich Kohlen organisiert“ — gibt seinen sofortigen Rücktritt bekannt. Bernhard Opitz von der FDP hält die Beschuldigungen für „erstunken und erlogen“, wirft dem Ausschuß „kriminelle Handlungen“ vor. Der nächste, Peter Stadermann (PDS) gibt sein Mandat zurück — ein hoher Funktionär. „Entschuldigung“ sagt er nicht. Seltsam: alle wollen „erst gestern“ erfahren haben, daß sie auf der schwarzen Liste stehen. Doch ob sie für die Stasi arbeiteten — das müßten sie doch schon lange wissen.