Schießübungen im Flur: Impressionen der Posthistorie

■ „Lärm & Wut“ von Jean-Claude Brisseau, 23.00 Uhr, ARD

„Lärm und Wut“ beginnt zunächst wie eines dieser bleischweren Sozialdramen, die einen entweder langweilen oder mit schlechtem Gewissen zurücklassen, weil man z. B. nicht genug gegen Ausländerfeindlichkeit unternommen hat. Doch schon nach kurzer Zeit werden andere Töne angeschlagen. Personen, Perspektiven und Handlung erscheinen plötzlich so irritierend schräg, daß es nicht mehr verwundert, daß dieser Sozial-Schocker trotz angekündigtem Kinostart und trotz des Regiepreises, den sein Regisseur Jean-Claude Brisseau 1988 in Cannes erhielt, nicht auf der Leinwand zu sehen war.

Nach der Schulstunde träumt der mit seiner Mutter tagein, tagaus nur über Pinnwand kommunizierende Bruno von einer engelhaften Vogelfrau, die ihm Zärtlichkeit schenkt und jedesmal seinen entflogenen Nymphensittich zurückbringt. Haarscharf zwischen Kitsch und Poesie ausbalanciert. Man drückt ein Auge zu ob dieser etwas abgegriffenen Metapher für Freiheit, doch es wird anders kommen.

Brunos Lehrerin ist kaum älter als die Schüler und trotz ihres sicheren Auftretens hoffnungslos überfordert. Die Klasse ist eine verbiesterte, antiautoritäre Null-Bock-Fraktion, die von dem rebellischen Jean-Roger launisch tyrannisiert wird. Kein Wunder, denn Jean-Rogers Vater, ein abgebrühter, halb asozialer, fremdenlegionmäßiger Überlebensprofi, hat seinen Sohn erzogen wie Rambo in the City. In die Wohnung muß Jean-Roger sich wie in ein feindliches Lager hineinpirschen, wobei er von großkalibrigen Querschlägern und einem lakonischen „Erwischt! — Sei wachsam.“ begrüßt wird. Wenn Vater und Schwager mit dem Karabiner im Flur Schießübungen veranstalten, wird schon Mal die Mauer zur Nachbarwohnung durchschlagen, und der keuchend dahinsiechende Großvater auf dem Kanapee gehört auch eher auf die Intensivstation. Das frappiert, weil es in keinster Weise dramaturgisch hergeleitet und damit wieder abgepolstert und entschäft wird. Es kommt alles knochentrocken.

Das Verhältnis zwischen Vater und Söhnen, obleich nur eine simple Umkehrung bürgerlicher Vorstellungen, bekommt durch die fesselnd physische Darstellung Bruno Kremers eine bedrückende Eindringlichkeit, die einen an solche Dinge wie Herzinfarkt denken läßt, oder an den bitteren Blutgeschmack im Mundwinkel nach einer unverhofften Ohrfeige. Ohne daß dies in einen programmatischen Diskurs ausarten würde, predigt Kremer seinem älteren Sohn, der aussteigen und eine bürgerliche Schlampe ehelichen will, von der Zivilisation als einer Hyäne, gegen die es sich zur Wehr zu setzen gilt. Da gibt es viel Geschrei. Der Ältere will aus dem Fenster springen, während der Jüngere mit seinem schweigsamen Freund Bruno in der Ecke Flipper spielt. Eine gelungene „Horrorshow“ also.

Gleichgültig und teilnahmslos indes läßt sich der Träumer Bruno von seinem Raufbold-Freund in die grausamen Banden-Riten des Betondschungels einer Pariser Trabantenstadt einführen. Hunde hinter dem Moped herschleifen, Penner ankokeln, Passanten belästigen. Brisseau beschreibt eine ähnlich grotesk-surrealistische Szenerie wie Kubrick in „Uhrwerk Orange“. Im Gegensatz zu dessen ästhetischer Feinmechanik legt er jedoch den Akzent auf das Ungeschminkte, Alltägliche. Beklemmend und unprätentiös wird das Leben als Guerillakrieg dargestellt. Eine rabenschwarze Negativ-Utopie, die die Vorstellung erweckt, die Posthistorie hätte längst und unbemerkt Einzug gehalten. Eine Atmosphäre, die nur noch von über Gewalt aus agierter Erotik bestimmt ist. Aus dieser Welt, in der der auf seinen Bruder eifersüchtige Jean-Roger nebenbei und beinahe Zufällig den Vater erschießt, kann der immer wieder in Tagträumen versinkende Bruno nur entfliehen, indem er sich von seinem Phantasie-Engel am Ende statt dem Nymphensittich den Revolver reichen läßt. Ein feinsinniger Film, der sanfte Poesie und brutale Wirklichkeit auf irritierende Weise ineinander verzahnt. Manfred Riepe