Die Welt hinter den Dingen

■ Eindrücke vom Festival Alter Musik in Stuttgart

Was ist Alte Musik? könnte die Streitfrage lauten. Ist der Begriff eher in seiner zeitlichen Dimension zu verstehen, analog zum anglo-amerikanischen Terminus „Early Music“, der die Musikepochen der Vor-Bach-Zeit (Frühbarock, Renaissance, Mittelalter) meint? Oder hat Alte Musik mit der Aufführungspraxis zu tun, die sich um eine historisch genaue Rekonstruktion der Musik im Stile der Zeit bemüht — egal welcher Epoche?

Die „Internationalen Festtage Alter Musik Stuttgart“, die dieses Jahr zum vierten Mal zwei Wochen lang in der Schwabenmetropole stattfanden und mittlerweile neben Regensburg zum führenden Festival dieses Genres avanciert sind, wählten einen Mittelweg. Konsequent einer historischen Authentizität verpflichtet, wollte man schon „Stück für Stück abtragen, womit die Romantik unseren Blick auf ,Musik vor 1800‘ verstellt“, wie einer der Ideengeber das Festivalkonzept umriß, doch hatte man damit den Zeitabschnitt so weit gefaßt, daß die Barockmusik zwangsläufig dominierte und die wirklich Alte Musik aus Renaissance und Mittelalter zu kurz kam. Trotzdem gab es neben den obligaten Werken von Bach und Telemann, auch einiges Interessantes zu hören, dem man im klassischen Konzertbetrieb nur selten begegnet.

Allem voran der „Ordo virtutum“ — der Reigen der Kräfte —, ein Mysterienspiel des 12. Jahrhunderts, das der Welt der Frauenklöster entstammt, die damals Zentren weiblicher Kreativität waren. In der Abgeschiedenheit der Benediktinerabtei Rupertsberg bei Bingen lebte die Äbtissin Hildegard — Ordensfrau, Mystikerin und Naturforscherin —, die uns heute als eine der schillerndsten Frauengestalten des europäischen Mittelalters erscheint. Die strenge Regel Benedikts bestimmte den Klosteralltag. Dreieinhalb Stunden Chorgesang, Tag für Tag, Woche für Woche. Die Gesänge sollten der religiösen Versenkung dienen und für Erfahrungen mit der imaginären Welt bereitmachen, die für die mittelalterlichen Menschen genauso real war wie das irdische Diesseits.

Hildegard von Bingen hatte Erscheinungen: „Darauf sah ich eine von Licht durchglänzte Luft. Aus ihr ertönte mir wundersam, mannigfaltige Musiken.“ Möglicherweise hat sie auf Grundlage dieser spirituellen Erfahrung den „Ordo virtutum“ komponiert, ein Singspiel, das aus dem üblichen Rahmen der gregorianischen Musik herausfällt. Es gewährt einen Blick hinter die Kulissen der realen Dingwelt. Hier tummeln sich eine Unzahl böser und guter Geister, die miteinander in ewigem Clinch liegen. Die Seele wird zwischen den Tugenden und dem Teufel hin- und hergezogen, bis die göttlichen Kräfte den Sieg davontragen.

Im gotischen Steinambiente der Stuttgarter Leonhardskirche inszenierte die Gruppe Sequentia diesen mystischen Reigen nach allen Regeln der Kunst. Zu Beginn stimmten die Sängerinnen im Chorbereich der Kirche ihre gregorianischen Choräle an, um erst später — singend — langsam in majestätischem Gang zur regulären Bühne im Mittelschiff zu wandeln, wo dann im Wechselgesang von Vorsängerin und Chor der kosmische Konflikt einer Entscheidung zutrieb.

Im Gegensatz zur Welt der Klöster sind die Motetten von Leonhard Lechner einer städtischen Kultur des 16. Jahrhunderts entnommen, wo sie der Oberschicht zum nötigen Glanz verhelfen sollten. Die ohne Chorbombastik vom exquisiten Ensemble Cantus Cölln vorgetragenen fünfstimmigen Vokalstücke (nur mit Lautenbegleitung) waren Gelegenheitskompositionen, die von den reichen Patriziern zu einem feierlichen Anlaß beim Komponisten in Auftrag gegeben worden waren. In Leonhard Lechner — einem Vertreter der Musik der süddeutschen Renaissance — ehrte das Stuttgarter Festival einen (Adoptiv-) Sohn der Stadt, der an der Hofkapelle Arbeit und Zuflucht fand vor den Verfolgungen seines ehemaligen katholischen Dienstherren am Hof von Hechingen, welcher ihm mit dem Fanatismus des gegenreformatorischen Eiferers nachstellte.

Heinrich Schütz ist eine Generation älter. Nicht nur wegen seines hohen Alters — er wurde 87 Jahre alt — ragt er wie ein Monolith aus der musikalischen Landschaft des 17. Jahrhunderts. Der Meister des Frühbarocks hat ein enormes Werk hinterlassen. Zentral sind die drei „Symphoniae Sacrae“, die in Stuttgart einmal unter der Regie von Frieder Bernius, ein andermal in der Interpretation der Gruppe Tragicomedia zur Aufführung kamen. Schütz war kein Neuerer, kein Revolutionär der Musikgeschichte, vielmehr übte er sich in der Rolle des Vermittlers, der die neuen Klänge, wie sie aus dem katholischen Italien kamen, für die Musik des protestantischen Nordens fruchtbar machte.

Die erste der „Symphoniae Sacrae“ — er schrieb sie während eines Studienaufenthalts in Venedig — ist noch in lateinischer Sprache gehalten, als Zugeständnis an seine katholischen Gastgeber. Von da an benutzte der Protestant Schütz nur noch das Deutsch der lutherischen Bibelübersetzung, um seine geistlichen Vokalwerke in den Dienst der reformatorischen Bewegung im Zeitalter der Glaubenskämpfe zu stellen.

Christoph Wagner