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„Keine Rechenschaft für Leidenschaft“

Am Sonntag endete in Frankfurt die erste bundesweite „Positivenversammlung“/ Schwule Aids-Kranke fordern ambulante Behandlung/ Straffreiheit für Drogenkonsum gefordert  ■ Von Klaus-Peter Klingelschmitt

Frankfurt (taz) — Ob die erste „Positivenversammlung“ der deutschen Aids-Hilfe positive Auswirkungen auf das Leben und Sterben von HIV- infizierten und an Aids erkrankten Menschen habe erzielen können, lasse sich erst in einigen Monaten feststellen — dann, wenn die am Wochenende in Frankfurt von den Betroffenen formulierten Forderungen vom Gesetzgeber, von den Behörden und von all denen, die mit der Pflege von Aids-Kranken „besonders im finalen Stadium“ befaßt sind, aufgegriffen werden. Das jedenfalls erklärte der Mitinitiator der „Positivenversammlung“, Bernd Aretz, am Sonnabend im Haus der Jugend am Deutschherrenufer.

Ein Ziel hätten die in Frankfurt erstmals versammelten HIV-Positiven und an Aids erkrankten Schwulen, Lesben und Drogenabhängigen aus der Bundesrepublik und der DDR dagegen erreicht: „Wir haben bewiesen, daß es für uns möglich ist, offen aufzutreten.“ Der Öffentlichkeit sei so demonstriert worden, daß die in die Isolation hineingetriebenen Risikogruppen aus „real existierende Personen“ bestehen, die bereit seien — trotz der schrecklichen Krankheit — gemeinsam Zukunftsarbeit zu leisten. Natürlich habe es im Verlauf der Versammlung „Reibungspunkte“ gegeben, sagte Aretz. Erstmals seien so unterschiedliche Gruppierungen wie Junkies und Schwule aufeinandergetroffen. Und diese heterogenen Interessengruppen hätten selbstverständlich unterschiedliche Forderungen formuliert — unter dem Primat der wechselseitigen Solidarität. So forderte etwa der Sprecherrat des aus der deutschen Aids-Hilfe hervorgegangenen Junkiebundes „JES“ die Einrichtung von „Druckräumen“ (Shooting Galleries) für drogenabhängige Aids- Kranke, „damit unsere Leute nicht in Bahnhofstoiletten oder auf der Straße verrecken“. Darüber hinaus müsse Wohnraum für Aids-kranke Drogenabhängige zur Verfügung gestellt werden, denn auf der Straße heiße es „schneller sterben“. Hunderte von schwerkranken Süchtigen würden derzeit in Absteigen vor sich hin vegetieren, weil für Junkies auch ein längerer Klinikaufenthalt nicht durchzuhalten sei: „Selbst finale Aids-Kranke brechen die Behandlung ab, um sich draußen mit Stoff zu versorgen“, meinte ein JES-Sprecher. Gerade für an Aids erkrankte Drogenabhängige sei die kostenlose Versorgung mit Ersatzdrogen lebensnotwendig.

Die Diskussion über die medizinischen Aspekte der Krankheit und über die Pflege und Versorgung von an Aids erkrankten Menschen stand denn auch im Mittelpunkt der eingerichteten Arbeitsgruppen. Insbesondere die Schwulen forderten ein Pflegegesetz, daß die ambulante Pflege auf Krankenschein zulasse. Diese Pflege müsse durch die Einrichtung von Spezialabteilungen in den Kliniken ergänzt werden, in denen schwule Pflegekräfte Schwule pflegen. Besonders in ländlichen Regionen seien Aids-kranke Schwule heute gezwungen, sich von Menschen pflegen zu lassen, die dem Lebensstil von Homosexuellen ablehnend gegenüberstehen. Ähnlich prekär sei die Lage an der „juristischen Front“. Heterosexuelle Richter fällten drakonische Urteile gegen Aids- Kranke, angeblich um Ansteckungen verhindern zu wollen, meinte Aretz. Doch das Sexualverhalten von Menschen könne nicht durch Richterspruch geändert werden.

Für die an der ersten „Positivenversammlung“ beteiligten Frauen forderte Angelika Worm aus Berlin gleichfalls die „ambulante Hilfe“. Viele alleinerziehende Frauen litten unter der Angst, bei einem längeren Klinikaufenthalt das Sorgerecht für ihre Kinder zu verlieren. Die Kinder von infizierten oder erkrankten Frauen hätten ohnehin unter der Isolation im Kindergarten oder in der Schule zu leiden. Worm verlangte von der Bundesregierung, die Aids- Aufklärungskampagnen auf die Kindergärten auszudehnen und finanzielle Mittel zur Einrichtung von Frauenwohnprojekten bereitzustellen. Darüber hinaus müßten arbeitsunfähig gewordene positive Menschen mit weit über den Sozialhilfesätzen liegenden Geldern ausgestattet werden — „für die notwendigen Fahrten zur Klinik und für den Kauf von gesunden Nahrungsmitteln“.

Mittags demonstrierten dann die 250 TeilnehmerInnen der „Positivenversammlung“ am Junkie-Treffpunkt Kaisersack gemeinsam für ein selbstbestimmtes Leben: „Keine Rechenschaft für Leidenschaft“ war das Motto der Kundgebung, auf der auf Transparenten „Haftverschonung für Aids-Kranke“ und die „rechtliche Anerkennung von Huren und Strichern“ gefordert wurde.

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