Hinter den Türen der Volkskammer

De Maizière und Krause, beide CDU, versuchten mit allen Mitteln, die Namensnennung der belasteten Abgeordneten zu verhindern/ Doch ihre Rechnung ging nicht auf/ Belasteter Abgeordneter: „Ich habe niemandem geschadet“  ■ Im Lenin-Saal P. Bornhöft

CDU-Fraktionschef Günther Krause wähnt sich sicher. Kalt lächelnd streicht der Mann durch die Seitenschiffe des Lenin-Saales, überläßt es stundenlang CDU-Hinterbänklern, die Bedenken der Partei gegen eine Verlesung der Namen ehemaliger Stasi-Zuträger zu formulieren. Auch Ministerpräsident Lothar de Maizière verzieht in der turbulenten Debatte keine Miene. Die beiden glauben offenbar, mit dem Zurückpfeifen der Dame Bergmann-Pohl sei der Fall erledigt. Die Parlamentspräsidentin hatte morgens verkündet, sie werde die Namen nicht verlesen. Was könnte also noch geschehen, da doch de Maizière und die Fraktionschefs über die Originallisten verfügen, von denen es keine Kopien gibt. Die Tatsache, daß in der CDU- und FDP-Fraktion absolut die meisten Stasisten an ihren Stühlen kleben, sollte geheim bleiben. Doch ihre Rechnung ist nicht aufgegangen — Vizepräsident Wolfgang Ullmann (Bündnis 90) verlas alle 56 Namen. Wie sehr diese Herrschaften sich vergessen, wenn sie sich hinter verschlossenen Türen wähnen, dokumentiert die taz im Folgenden:

Die ersten Anzeichen der Unruhe verrät Krause, als der Antrag des FDPlers und inoffiziellen Stasi-Mitarbeiters Jochen Steinecke (Kategorie 1) abgebügelt wird. Der Mann hatte die Verfassungsmäßigkeit der nach langem Hin und Her von der Volkskammer mehrheitlich beschlossenen Namensnennung angezweifelt. Dem bedrückenden, von Tränen, Ohnmachtsanfällen, einem Sitzstreik und Gebrüll begleiteten Szenario entzieht sich der Verfassungsausschuß, indem er mehrheitlich für die Namensnennung plädiert.

Die Türen schließen sich

Nun kommt Leben in den den Parteisoldaten Krause. Er springt auf und beantragt den Ausschluß der Öffentlichkeit. Den Einwand von Marianne Birthler (Bündnis 90), die Betroffenen könnten dann nichts zu ihrer Entlastung sagen, läßt er nicht gelten. Offenbar denkt der Mann daran, seine letzte, infame Karte lieber nicht unter den Augen der Fernsehkameras zu ziehen. Die nichteingeweihten FDPler und CDUler ergreifen noch rasch die Flucht nach vorn. Mit Minister Axel Viehweger (FDP) beginnt der Reigen der persönlichen Erklärungen in dem Waschsalon Volkskammer.

Danach wird die Öffentlichkeit auf Antrag Krauses ausgeschlossen. Krause grinst, er ahnt noch nicht, was passieren wird. Parlamentsvizepräsident Wolfgang Ullmann erläutert, wie er den Beschluß der Volkskammer auszuführen gedenkt. „Ich habe den Vorsitzenden des Prüfungsausschusses, Herrn Abgeordneten Hildebrand, gebeten, mir aus seinen Unterlagen die Liste zu übergeben.“ Ein ohrenbetäubendes Gebrüll unterbricht ihn. Krause schreit: „Wo haben Sie die her?“ Das PDS- Mitglied des Ausschusses, Michael Schumann, „möchte feststellen, daß diese Übergabe stattgefunden hat, ohne daß die Mitglieder des Ausschusses gefragt worden sind“. Laute „Pfui“-Rufe bei CDU und FDP. Schumann fährt fort: „Zweitens ist mir nicht klar, von welchen Unterlagen Herr Ullmann gesprochen hat, die ihm übergeben worden sind.“ Erneutes Tohuwabohu. Ständig unterbrochen erläutert Ullmann, daß Hildebrand, zwei Ausschußmitglieder und drei Abgeordnete bei der Übergabe des geschlossenen Umschlages zugegen waren. „Daß er geschlossen war, ist bezeugt. Die Protokolle sind vorhanden.“ Wer ein solch gesichertes, schon fast bürokratisches Verfahren wählt, der erzählt noch nicht mal seiner Ehefrau, was auf dem Papier steht.

Doch mit diesem Schachzug hatten Krause, de Maizière, Ortleb und Gysi nicht gerechnet. Versammlungsleiter Reinhard Höppner bittet Ullmann, den Umschlag noch nicht zu öffnen, weil man „mitten in der Diskussion“ sei. Mit schneidender Stimme sagt Krause: „Erstens zum Sachverhalt: Ich bin von Herrn Hildebrand belehrt worden, daß es nur das Original und weiter keine Belege gibt. Ich habe unterschrieben, daß nur ich das Original habe. Ich bin getäuscht worden vom Ausschuß, weil es neben dem Original noch weitere Kopien gibt. Damit ist meine Unterschrift hinfällig. Zum zweiten Sachverhalt: Ich finde diese Verfahrensweise, daß sie sich in das Verfahren selbst begeben haben, Herr Dr. Ullmann, nicht gerechtfertigt. Denn wenn der Ausschuß beschlossen hat, den Fraktionsvorsitzenden und dem Ministerpräsident die Originale zu geben, dann hätten diese sie ihnen geben müssen.“ Eben das hatten Krause, de Maizière, Gysi und Ortleb verweigert. Tiefe Wut schwingt in Krauses Stimme mit als er keift: „Ich finde es nicht in Ordnung, wenn gegen vereinbarte Verfahrensweisen verstoßen wird.“ Unter trommelndem Beifall distanzieren sich zwei weitere Ausschußmitglieder von Hildebrands Übergabe der Listen an Ullmann. SPD-Parteichef Wolfgang Thierse erinnert daran, daß anders der Volkskammerbeschluß der Namensnennung gar nicht hätte umgesetzt werden können.

De Maizière vergißt sich

Ein logisches Argument, das de Maizière — jenen Mann, dem man Weizsäckersche Qualitäten nachsagt — nicht im geringsten anficht. Mit keiner Silbe geht er auf Thierse ein. Mit fast den gleichen Worten wie zuvor Krause „möchte ich feststellen, daß auch mir gestern abend bei der Übergabe der Protokolle gesagt worden ist, dies sei das einzige Original, Kopien davon seien nicht gefertigt worden (...) Ich muß feststellen, daß offensichtlich mehrere Kopien gezogen worden sind von dieser sensiblen Sache. (...) Wir haben hier das Haus für die Öffentlichkeit geschlossen. Aber ich bin mir ziemlich sicher, daß morgen irgendwelche Listen, in welchen Zeitungen auch immer, auftauchen werden.“ Mit fast überschlagender Stimme und einem giftigen Blick in Richtung Ullmann attackiert de Maizière den Vizepräsidenten auf infame Weise: „Ich möchte nicht wissen, wer an welche Zeitung zu welchen Bedingungen die Namen gegeben hat.“

Der Abgeordnete Hildebrand korrigiert die Beschuldigungen: „Die Protokolle für die Fraktionsvorsitzenden und den Regierungschef sind Unikate. Als Dr. Ullmann mit vier Mann zu mir kam, habe ich in mühsamer Arbeit aus meinen Unterlagen, die ich aufgehoben habe, eine neue Zusammenstellung gemacht, zum Zwecke der Umsetzung des Volkskammerbeschlusses. Das ist alles.“ Die Glocke des Präsidiums kann sich kaum durchsetzen gegen die „Buh“- und „Pfui“-Rufe auf der einen und den Beifall auf der anderen Seite. Das Präsidium hat vollends die Kontrolle über die schäumende Masse verloren. De Maizière verlangt, die Presse nicht nur des Saales, sondern des Hauses zu verweisen, weil „man nicht mal mehr ruhig aufs Klo gehen kann“.

Dann ergreift Jochen Haschke, früher Neues Forum, jetzt als DSU- Abgeordneter Mitglied des Ausschusses zur Überprüfung der Parlamentarier, das Wort. Mit einem Schlag vernichtet der rundliche Sachse die letzten Hoffnungen von Krause und Co. Ruhig hebt er an: „Herr Ministerpräsident, ich habe keine Unterlagen. Aber ich würde ihnen die Namen hier auswendig sagen können, wenn sie Spaß dran haben. Monatelang sind mir diese Namen im Kopf — sowohl die Klarnamen wie auch die Decknamen.“ Plötzlich wird es still. „Wenn sie wollen, sage ich sie ihnen in alphabetischer Reihenfolge, vorwärts oder rückwärts, ich sag sie ihnen fraktionsweise, von Kategorie 1 zu Kategorie 6 oder von Kategorie 6 zu Kategorie 1. Wenn man ununterbrochen sechs oder acht Wochen lang, fast Tag und Nacht, sich in den Archiven der Staatssicherheit aufhält, dann prägen sich die Namen tief ins Gedächtnis.“ Krause schnappt nach Luft, es ist aus. „Wir haben im Ausschuß gesagt, daß wir unsere Aufzeichnungen gemeinsam vernichten. Das haben wir noch nicht getan.“ Keine Chance mehr für die Stasi-Fraktion, deren Verhalten Haschke lakonisch kommentiert: „Was sich hier abspielt, finde ich skandalös.“

Nun geht alles sehr schnell, auch wenn Bergmann-Pohl bis zur letzten Sekunde versucht, das Verfahren zu komplizieren und Ullmann die Liste abzuluchsen. Schließlich übergeben die Fraktionsführer Ullmann ihre Listen. Sichtlich verzweifelt räumt Bergmann-Pohl ein: „Ich kriege jetzt vor der Verlesung den Hinweis, daß die Journalisten vor der Tür stehen und alles mithören.“ Ein Abgeordneter vermutet: „Die haben doch längst gedruckte Listen.“ Wieder bricht ein Chaos aus, trötet eine PDS- Frau ihre „Unschuld“ in den Raum. Tatsache ist, daß von den 56 verlesenen Namen nur diejenigen der Kategorie 6 als eindeutig entlastet gelten können (siehe Dokumentation).

Wehrlose Kanichen und das Großwild

Die Gewißheit, daß ihre Vergangenheit namentlich aufgedeckt wird, treibt offenbar einige Abgeordnete dazu, sich vor der wieder zugelassenen Presse reinzuwaschen. Den Vogel schießt Dieter Frönicke (CDU, Kategorie 1) ab. Er will nur deshalb als inoffizieller Mitarbeiter der Stasi geführt worden sein, weil er „im Stadtparlament Halle seit 1970 immer wieder die Partei- und Staatsführung angegriffen hat“. Welche Unverfrorenheit, sich nach zwanzig Jahren Mitgliedschaft in der Blockpartei hinzustellen und zu sagen: „Wir waren nicht in der Lage, das Großwild zu jagen und zu erlegen. Jetzt fühle ich mich als wehrloses Kaninchen im Käfig, auf das geschossen wird.“ Wie alle anderen „fühle ich mich nicht schuldig, in- und außerhalb dieses Landes einem Menschen geschadet zu haben“. Ebenso wie Jochen Steinecke (FDP, Kategorie 1) hat Frönicke „vielen Menschen helfen können. Ich habe die Hände über meine Mitmenschen gebreitet und Dinge von ihnen fern gehalten, die die Obrigkeit verlangte.“ Wie ein dicker Schleim verkleben diese Worte die Luft. Johannes Kney, seit 23 Jahren in der LDPD und Bezirksvorsitzender in Cottbus, jetzt FDP (Kategorie 4), bringt auf den Punkt, warum sich so viele in der Volkskammer breit gemacht haben: „Ich habe meine Partei, wie in letzter Zeit gesagt wird, eine Blockpartei, zusammengehalten und über die Wende gebracht.“ Das muß doch wohl belohnt werden, nicht wahr?

Wieder einmal ist es Jochen Haschke, der die richtigen Worte für das gespenstische Schauspiel aus Servilität, Feigheit, tatsächlicher Betroffenheit und mangelndem Bruch mit der Vergangenheit findet: „Ich bedaure, daß der Ausschuß nicht erkannt hat, daß das MfS eine zutiefst humane Organisation war und nur informelle Mirtarbeiter angeworben hat, um Schaden von uns allen abzuwenden. Sie ließen sich leiten von dem Gedanken, den Erich Mielke zum Ausdruck gebracht hat: ,Ich liebe euch alle.‘ Das ist hier heute abend ja mehrfach gesagt worden.“