Antragsfreiheit bald vorbei?

Mit dem Ende der DDR droht das Ende des Bleiberechts für Juden aus der Sowjetunion/ Unsicherheit für Ostberliner Beratungsbüro  ■ Von Anita Kugler

Vor dem Zimmer 4143 in der Otto- Grotewohl-Straße 19d drängen sich die Menschen. Sie sind müde, die Anspannung steht ihnen im Gesicht geschrieben. Einige irren ständig auf und ab, rauchen eine Zigarette nach der anderen. Andere sitzen erschöpft auf schmalen Holzbänken, Kinder auf dem Schoß oder an der Hand. All diese Menschen sind jüdische Emigranten, die Überzahl aus der Sowjetunion, aber auch aus Bulgarien, Jugoslawien oder Rumänien. Die meisten von ihnen sind unter 40 Jahre alt und hochqualifiziert; etwa drei Viertel sind Akademiker, ein weiteres Viertel Handwerker, wie sie in der DDR dringend gebraucht werden. Einer der Ankömmlinge erklärt: „Das Hirn der Sowjetunion reist aus; es ist eine Katastrophe für das Land, aber wir haben keine andere Wahl. Die antisemitische Pogromstimmung in den sowjetischen Republiken wird unerträglich. Wir haben Angst um unser Leben.“

Fast alle Hilfesuchenden sind erst wenige Stunden zuvor, nach langen Zugfahrten, in der DDR angekommen. Jetzt warten sie auf Einlaß in das Zimmer 4143, denn hier wird ihnen das Tor zu Deutschland aufgemacht. Hier, in dem ehemaligen Gebäude des Goebbelschen Propagandaministeriums, befindet sich die „Kontakt- und Beratungsstelle für ausländische jüdische Bürger“,initiiert vom Büro der Ausländerbeauftragten beim Ministerrat der DDR. Bei der Einweihung am 18.August nannte die Ausländerbeauftragte Almut Berger diesen Ort „merk-würdig. Würdig, zu merken, würdig, bemerkt zu werden“. Die Ansiedlung in diesem ehemaligen Haus des Schreckens „könnte als Zumutung und Taktlosigkeit gelten“, aber es sei als Versuch zu werten, „gemeinsam mit dieser Geschichte zu leben“.

Wohl die wenigsten der Ankommenden kennen die Geschichte des Gebäudes, aber bis in die russischen Weiten hinein hat sich herumgesprochen, daß es hier „Stempel“ gibt, die es den emigrierten Juden aufgrund einer Sonderregelung des Ministerrates vom 11.Juli erlaubt, „ständigen Wohnsitz in der DDR“ zu nehmen. Und deshalb kommen sie, täglich um die fünfzig bis sechzig Menschen, montags bis einschließlich samstags. Die beiden Berater, Lutz Basse und die fließend russisch sprechende Helga Schmidt, schätzen, daß seit Beginn des Einreisestroms im Mai über 2.000 jüdische Emigranten in die DDR gekommen sind.

All diesen Menschen wird geholfen, wenn auch oft nur provisorisch. Wichtigstes Hilfsmittel ist eine DDR-Adresse — die Voraussetzung für das begehrte Bleiberecht, das die jüdischen Emigranten mit den DDR- Bürgern rechtlich gleichstellt. Die von den Kommunen und bereitgestellten provisorischen Übergangswohnungen, die morgens dem Beratungsbüro gemeldet werden, sind mittags oft schon vergeben. „Wir leben von der Hand in den Mund“, sagt Basse. An manchen Tagen werden Notbetten in die Amtsräume gestellt.

Größere Gruppen von jüdischen Emigranten leben inzwischen in Magdeburg, Zittau, Eisenberg, Laucha, Kloster Mansfelde bei Halle, Rostock, Teterow in Mecklenburg und Auerbach im Vogtland. Die größte Anzahl, offiziell 650, inoffiziell wohl mindestens 800, leben in Berlin. Glücklich ist Lutz Basse darüber nicht, denn die Chance, in dieser Stadt eine eigene Wohnung zu finden, sei fast aussichtslos. Bisher hätten nur die Bezirke Prenzlauer Berg und Hellersdorf je 10 Wohnungen der Kommunalen Wohnungsbauverwaltung abschwatzen können. Die meisten Emigranten hausen seit Wochen extrem beengt in Wohnheimen der Trabantenstadt Marzahn.

Seit die konsularischen Vertretungen der Bundesrepublik und der DDR in Leningrad, Moskau, Kiew, Odessa auf Bonner Weisung keine Ausreiseanträge sowjetischer Juden mehr bearbeiten, angeblich weil sie der Antragsflut nicht Herr werden, kommen die Juden entweder illegal auf Schleichwegen oder über private Einladungen nach Deutschland. Die Bonner Weisung hat den Ausreisestrom nicht gebremst, sie hat nur neue Hürden aufgebaut. Jetzt werden die hilfesuchenden Menschen oft Opfer von Geschäftemachern. In West-Berlin werden Einladungen an jüdische Bürger, die in die DDR weiterreisen wollen, regelrecht verschachert. 1.500 DM kostet so eine Einladung, mehr als ein Jahresgehalt in der Sowjetunion.

Alexander S. (Name v.d.Red. geändert) aus Leningrad ist so ein Fall. Er ist promovierter Mathematiker, verheiratet, zwei Kinder, und stellte im Juli dieses Jahres bei der konsularischen Vertretung einen offiziellen Ausreiseantrag für sich und seine Familie. Der Antrag ging im Behördengestrüpp verloren, und man empfahl ihm, den Antrag zu wiederholen. Doch inzwischen, Mitte August, wurden keine neuen Anträge mehr angenommen. Damit war der Weg in die DDR versperrt. Die einzige Chance, doch noch Leningrad verlassen zu können, lag nun auf dem Schwarzmarkt. Dort erstand er für 15.000 Rubel eine Einladung — nur für sich — nach West-Berlin. Eine Verzweiflungstat, die die Familie nahezu ruinierte; aber wenigstens hatte er nun die Reiseerlaubnis. Seinen Westberliner „Gastgeber“ hat er nie gesehen. Er fuhr direkt vom Ostberliner Hauptbahnhof in die Beratungsstelle und stellte dort den Antrag. Nach ein paar Wochen hofft er seine Familie nachholen zu können.

Alexander S. hat noch Glück im Unglück gehabt. Denn ab dem 3. Oktober wird es mit dem großzügigen, DDR-spezifischen Bleiberecht vorbei sein. In dem neuen Deutschland gelten die Gesetze der Bundesrepublik , und das bedeutet für die emigrierenden sowjetischen Juden eine erhebliche Verschlechterung. Denn die Juden aus der Sowjetunion werden in der Bundesrepublik nur „geduldet“. Sie haben keinen Anspruch auf einen Wohnberechtigungsschein oder eine Gewerbeerlaubnis, keinen Anspruch auf Arbeit, Umschulung oder Sprachkurs, Berufsjahre werden nicht anerkannt. Sie sind rechtlose Sozialhilfeempfänger. Eine Sonderreglung für sowjetische Juden wurde im Einigungsvertrag nicht vereinbart. Das kann auch das Ende der Beratungsstelle bedeuten. Keiner der Mitarbeiter weiß dort, wie es nach dem 3.Oktober weitergeht. Bis jetzt ist auch ein klares Wort des Zentralrats der Juden in Deutschland ausgeblieben. Heinz Galinsiki, vergangenen Donnerstag zu Besuch im provisorischen Aufnahmeheim Ahrensfelde, wußte zur Zukunft der Beratungsstelle nichts zu sagen. Anstatt „Alarm“ zu schlagen, nervte er die Flüchtlinge mit Problemen der jüdischen Gemeindeorganisation. Und dabei ist die Lage fatal, denn alles weist darauf hin, daß der kurze Sommer der Antragsfreiheit in der DDR auf Wunsch der Bundesrepublik vorbei sein wird. Lutz Basse und Helga Schmidt werden am 4.Oktober ihre Arbeitskraft in der Beratungsstelle anbieten, aber noch hat ihnen keiner gesagt, ob sie weiter jüdischen Menschen helfen können, oder ob ihre einzige Aufgabe sein wird, das Zimmer 4143 in der Otto-Grotewohl- Straße 19d besenrein an Gesamtdeutschland zu übergeben.